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Matthias W. Birkwald

Elf Gründe gegen das ›Bedingungslose Grundeinkommen‹

Eine Botschaft von Matthias W. Birkwald an die Mitgliedschaft der LINKEN

01.09.2022

Elf Gründe gegen das ›Bedingungslose Grundeinkommen‹

Eine Botschaft von Matthias W. Birkwald an die Mitgliedschaft der LINKEN

Liebe Genossinnen und Genossen,

Mitte September werden wir in einem Mitgliederentscheid darüber abstimmen, ob unsere Partei DIE LINKE sich der Forderung nach einem sogenannten Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) anschließen wird oder nicht Wichtige formale Informationen zur genauen Fragestellung des Entscheids findet Ihr hier auf der Webseite der Bundespartei. Eine inhaltliche Einführung und Übersicht in die Debatte der LINKEN um das Grundeinkommen findet Ihr ebenso bei der Bundespartei. Mit besonderer Empfehlung möchte ich Euch auf die Broschüre »Das Bedingungslose Grundeinkommen: Keine gute Idee« hinweisen, in der ein breites Spektrum von Genossinnen und Genossen ihre verschiedenen Kritikpunkte am BGE und die Vorzüge der (von mir mit entwickelten) sanktionsfreien Mindestsicherung zusammengetragen haben. In dieser Broschüre findet Ihr auch mein Statement: »DIE LINKE sollte weiter für eine sanktionsfreie soziale Mindestsicherung, für eine armutsfeste Solidarische Mindestrente und für gute Arbeit, gute Löhne und eine gute Rente kämpfen, statt sich mit Gewerkschaften, Sozialverbänden und untereinander über das bedingungslose Grundeinkommen zu zerstreiten.«

Weil der anstehende Entscheid so wichtig ist, wende ich mich mit diesem Schreiben an Euch. 

Liebe Genossin, lieber Genosse, ich ersuche Dich dringend darum, bei der anstehenden Abstimmung gegen den vorgelegten Vorschlag zu stimmen, dass DIE LINKE sich der Forderung nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen anschließen möge. Ich mache mittlerweile seit fast dreißig Jahren in verschiedenen Funktionen Sozialpolitik in unserer Partei und ihren Quellparteien. In dieser Zeit habe ich oftmals Genossinnen und Genossen, Mitstreiterinnen und Mitstreiter getroffen, die das BGE unterstützten. Deswegen konnte und kann ich gut mit der aktuellen Formulierung unseres gültigen Erfurter Grundsatzprogramms der LINKEN von 2011 leben, in dem es heißt:

»Wir fordern (...): Hartz IV muss weg. DIE LINKE fordert stattdessen ein am vergangenen Einkommen orientiertes Arbeitslosengeld, mindestens aber eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung, die Armut tatsächlich verhindert und die Bürgerrechte der Betroffenen achtet. Dazu gehören die Abschaffung der Sanktionen, der Sonderregelungen für junge Menschen bis zum 25. Lebensjahr, der Bedarfs- und Einsatzgemeinschaften und die Einführung des Individualprinzips auf der Basis der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtungen. Teile der LINKEN vertreten darüber hinaus das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens, um das Recht auf eine gesicherte Existenz und gesellschaftliche Teilhabe jedes Einzelnen von der Erwerbsarbeit zu entkoppeln. Dieses Konzept wird in der Partei kontrovers diskutiert. Diese Diskussion wollen wir weiterführen.«

Ich möchte Dir elf Argumente (es gibt noch viele mehr) dafür unterbreiten, warum wir diese Formulierung unseres Grundsatzprogramms und anderer gültiger Parteitagsbeschlüsse in Sachen Grundeinkommen nicht in Frage stellen und deswegen beim anstehenden Mitgliederentscheid bitte mit »Nein« stimmen sollten.

 

Erster Grund

Die derzeitige Formulierung im Grundsatzprogramm zum BGE war und bleibt ein guter Kompromiss. Alle diejenigen, die für ein Grundeinkommen eintreten, unterstützen auch die sanktionsfreie soziale Mindestsicherung als deutliche Verbesserung gegenüber dem Ist-Zustand von Hartz IV und auch des kommenden ›Bürgergeldes‹. Umgekehrt lehnen etliche, wahrscheinlich die meisten, Unterstützerinnen und Unterstützerinnen der sanktionsfreien sozialen Mindestsicherung das BGE ab. Bekennte sich DIE LINKE zum BGE, würden manche von ihnen womöglich und bedauerlicherweise die Partei verlassen. Das würde DIE LINKE schwächen und läge nicht im Interesse unserer Partei. 

 

Zweiter Grund

Kein einziger Sozialverband, keine einzige Gewerkschaft und keine einzige maßgebliche Bündnisorganisation der LINKEN verficht das BGE. Würde sich DIE LINKE zum BGE bekennen, stellte sie sich selbst ein Bein für die Zusammenarbeit mit diesen wichtigen Akteurinnen und Akteuren, die wir so dringend brauchen, um mehr soziale Gerechtigkeit durchsetzen zu können.

 

Dritter Grund

Bisweilen führen Unterstützerinnen und Unterstützer des BGE Umfragen an, wonach eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das Bedingungslose Grundeinkommen unterstützt. Diese Ergebnisse beruhen bestenfalls auf einem Missverständnis: Viele Befragte, die das BGE bejahen, haben dabei tatsächlich etwas vor Augen, was unserer geltenden Forderung nach einer sozialen sanktionsfreien Mindestsicherung sehr nahe kommt.

 

Vierter Grund

Ein Hauptargument der BGE-Befürworterinnen und -Befürworter lautet, ein BGE einzuführen sei unvermeidlich, weil »der Gesellschaft die Arbeit ausginge«. Das ist ein fataler Irrtum. Bisher wurde noch jede solche Prognose, die Arbeit werde uns aufgrund technischen Fortschritts (durch Mikroelektronik, Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft, Automatisierung, Digitalisierung usw.) ausgehen, von der Realität widerlegt. Hätten wir eine gerechtere Einkommensverteilung, könnten und würden mehr Menschen mehr Güter und Dienstleistungen nachfragen, was wiederum mehr Arbeit nach sich zöge. Aufgrund des demographischen Wandels herrscht heute an etlichen Stellen ein Mangel an Arbeitskräften! Auch zeigte uns zuletzt das Neun-Euro-Ticket: Wäre der öffentliche Verkehr günstiger oder gar entgeltfrei, stiege die Inanspruchnahme und es müssten dort mehr Kapazitäten geschaffen und mehr Menschen beschäftigt werden.

 

Fünfter Grund

Manche Unterstützerinnen und Unterstützer des bedingungslosen Grundeinkommens sagen, ihre Forderung sei ein Instrument zur Umverteilung von Oben nach Unten. Daran ist zu zweifeln. Würde ein BGE in existenzsichernder Höhe unterschiedslos an jeden Menschen ausgezahlt, würden die Unternehmen nur zu gerne versuchen, es auf die Löhne anzurechnen. Heraus käme ein Kombilohn. Kombilöhne bedeuten aber eine Umverteilung von den Steuerzahlenden zu den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern!

 

Sechster Grund

Für Verfechterinnen und Verfechter des Bedingungslosen Grundeinkommens ist die Abschaffung jeglicher Bedürftigkeitsprüfung und jeglicher Einkommensprüfung zentral. Viele glauben darüber hinaus, weite Teile der ›Sozialstaatsbürokratie‹ abschaffen zu können. Beides beruht aber auf Irrtümern. Ein BGE, das für Alle gleich wäre (außer für Kinder) wäre ungerecht und wahrscheinlich gar nicht möglich. Denn was passierte, falls die Menschen von hohen Mieten oder von Krankheit, schweren Unfällen und ihren Folgen oder von einer Behinderung betroffen wären? Für sie würde ein BGE nicht ausreichen. Fast niemand mag Bürokratie, niemand füllt gerne Formulare aus – aber in einer modernen Gesellschaft kommt man an ihnen aus guten Gründen nicht vorbei.

 

Siebter Grund

Für das BGE wird oft ins Feld geführt, es erlaube den Menschen, jenseits der Erwerbsarbeit anderen sinnvollen Tätigkeiten nachzugehen. Dass sie das können mögen, ist auch wünschenswert. Aber schon bei Karl Marx können wir nachlesen: Auch wenn wir das ›Reich der Freiheit‹ vergrößern, bleibt ein ›Reich der Notwendigkeit‹. Die allermeisten Tätigkeiten, die mit dem BGE verbunden werden, wie künstlerische und kreative Tätigkeit, Sorgearbeit u.ä. setzen allesamt Vorleistungen und Infrastruktur voraus, die durch Erwerbsarbeit erst geschaffen werden. Eine faire Verteilung der Arbeit ist gefragt! Um das Reich der Freiheit zu vergrößern, ist die richtige linke Antwort deswegen die Verkürzung des Arbeitstages und nicht das BGE.

 

Achter Grund

Viele Unterstützerinnen und Unterstützer des BGE versprechen sich davon nicht nur eine Befreiung VON der Arbeit, sondern auch IN der Arbeit. Sie glauben, Menschen würden eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen erzwingen können, indem sie von einem schlechten Arbeitsumfeld einfach auf das BGE auswichen. Die gegenwärtige Realität beweist uns jedoch, dass das nicht aufgeht. Im Pflegebereich ziehen sich etliche Beschäftigte stückweise durch Wechsel auf Teilzeit zurück oder wechseln ganz den Beruf. Ähnliches geschah unter Corona in der Gastronomie. Trotzdem haben sich die Arbeitsbedingungen dort nicht nennenswert verbessert. Hingegen könnten zum Einen die Ausweichmöglichkeiten auf andere Tätigkeiten, die man mit einer aktiven Vollbeschäftigungspolitik vergrößern kann, etwas bewirken und zum Anderen beispielsweise eine solidarische Organisierung, wie zuletzt im Streik an den NRW-Unikliniken, der meines Erachtens viel zu wenig Beachtung gefunden hat.

 

Neunter Grund

Es geht natürlich auch ums Geld. In der Broschüre »BGE, keine gute Idee« hat unser Genosse Ralf Krämer gut dargelegt, warum der Finanzierungsvorschlag der BAG Grundeinkommen nicht überzeugend ist. Selbst wenn man die steuerfinanzierten Sozialleistungen abzieht, die das BGE ersetzen soll (woran ich nicht glaube, siehe sechster Grund), »verbliebe ein Nettofinanzbedarf von 988 Milliarden Euro pro Jahr. Das wären über 40 Prozent des Volkseinkommens. Zum Vergleich: Alle Städte und Gemeinden, Länder und der Bund gaben 2017 zusammen 931 Milliarden Euro aus.« Zu Recht sind Gewerkschaften, Sozialverbände und die meisten Linken davon nicht überzeugt.

 

Zehnter Grund

Die Rückkehr der Inflation verdeutlicht mehrere Probleme: Ein BGE nützte nicht viel, wenn die Empfängerinnen und Empfänger sich dafür immer weniger kaufen könnten. Das BGE immer wieder zu erhöhen, könnte wirkungslos verpuffen, wenn die Unternehmen ihre Preise weiter erhöhten. Zudem könnten Gerechtigkeitsprobleme auftreten, falls dadurch das BGE zwischenzeitlich höher ausfiele als tarifvertraglich festgelegte Löhne. Damit Beschäftigte und Erwerbslose oder Beschäftigte und Rentnerinnen und Rentner nicht gegeneinander ausgespielt werden, braucht man eine kluge Wirtschaftspolitik und gezielte Hilfen und Entlastungen, kein BGE.

 

Elfter Grund

Für viele Menschen erscheint ein Grundeinkommen attraktiv, weil sie sich davon einen Befreiungsschlag gegen Armut, unwürdige Arbeitsverhältnisse und gesellschaftliche Ausgrenzung erhoffen. Die Hoffnung, diese Verhältnisse zu überwinden, teile ich. Doch das Versprechen des Bedingungslosen Grundeinkommens ist trügerisch. Konkrete Probleme wie Wohnungsnot, Diskriminierung, wirtschaftlicher Strukturwandel oder Folgen des ökologischen Umbaus brauchen konkrete Antworten, denen pauschale Lösungen nicht genügen. Und pauschal wäre es, wenn Multimillionärinnen und Multimillionäre, die es nicht bräuchten, das BGE genauso erhielten, wie Arme und Obdachlose. Das Argument, die Reichen zahlten dann höhere Steuern, zieht nicht, denn bei dem enormen Finanzbedarf eines BGEs müssten auch breite Teile der Mittelschicht deutlich höhere Steuern zahlen. Im Übrigen gäbe es meines Erachtens niemanden mehr, der ein BGE wollen würde, wenn denn eine armutsfeste und sanktionsfreie soziale Mindestsicherung im Bundesgesetzblatt stünde.

Die Armen würden nicht mehr drangsaliert und hätten ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze, für die Mittelschicht wäre ein BGE linke Tasche, rechte Tasche und für die Besser- und Bestverdienenden und die Reichen würde ein BGE zu deutlich höheren Steuern führen. Es gäbe also niemanden, der an einem BGE noch Interesse hätte, wenn eine repressions- und sanktionsfreie Mindestsicherung in armutsfester Höhe eingeführt wäre. Darum lasst uns diese bitte gemeinsam erkämpfen. Und wenn sie dann gesellschaftliche Realität sein wird, bin ich gerne bereit, über das BGE neu zu diskutieren. 

Ich danke Dir, dass Du meine Elf Argumente gelesen hast, und dass ich zu Deiner Meinungsbildung beitragen durfte.