DIE LINKE im Bundestag
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Matthias W. Birkwald

Amira Mohamed Ali: Echte Nachhaltigkeit braucht soziale Sicherheit

Rede im Deutschen Bundestag zur Generaldebatte Nachhaltigkeit am 16. September 2020 im Plenum

17.09.2020
Redebeitrag von Amira Mohamed Ali (Die Linke) am 16.09.2020 um 17:03 Uhr (175. Sitzung, TOP 3, ZP 2)

Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ja, wir reden diese Woche über Nachhaltigkeit. Das Thema ist wirklich nicht neu. Seit Jahrzehnten wird darüber geredet – auch hier im Hause. Aber wie viel hat das bisher gebracht? Auf jeden Fall zu wenig! Denn trotz der vielen Debatten und Erklärungen geht die Entwicklung seit Jahrzehnten in die falsche Richtung. Das belegt auch der sogenannte Earth Overshoot Day. So bezeichnet man den Tag, an dem die innerhalb eines Jahres nachwachsenden natürlichen Ressourcen durch uns aufgebraucht sind. 1970 war das der 29. Dezember; in diesem Jahr war er bereits am 22. August – und das ist doch wirklich alarmierend.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber trotzdem sind das Einzige, was wirklich nachhaltig stattfindet, Sonntagsreden, in denen von Regierungsseite bekundet wird, man würde den Ernst der Lage erkennen und entschlossen handeln. Genau das passiert dann aber leider nicht. Dabei muss die Bundesregierung jetzt endlich das tun, was jahrzehntelang versäumt wurde: entschlossen die richtigen Weichen für unsere Zukunft stellen und nicht immer nur die falschen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn ich über falsche Weichenstellungen rede, muss ich an unseren Verkehrsminister denken. Wie sieht eigentlich die Nachhaltigkeitsbilanz von Andreas Scheuer aus? Die Maut in den Sand gesetzt, Abermillionen von Steuergeldern verpulvert, und die neuen Projekte schließen da an: der sogenannte Deutschlandtakt und der Schienenpakt; das reimt sich zwar, aber deswegen ist es nicht gut.

Das Ziel des Schienenpaktes hört sich zumindest erst mal gut an: Es sollen mehr Güter auf die Schiene. Das wäre in der Tat dringend notwendig, um Klimaziele zu erreichen. Wenn man sich aber die Pläne näher ansieht, dann ist das doch sehr ernüchternd. Bis 2030 soll der Anteil von Gütern auf der Schiene von 19 auf gerade einmal 25 Prozent ansteigen. Herr Scheuer nennt das einen Masterplan; für mich ist das ein Minischritt; das sind Tropfen auf heiße Steine.

(Beifall bei der LINKEN)

Das reicht wirklich nicht.

Durch den sogenannten Deutschlandtakt sollen die großen Städte besser miteinander verbunden werden. Die Züge sollen zum Beispiel nicht mehr im Stunden-, sondern im Halbstundentakt zwischen den großen Metropolen fahren. Die Idee ist ja schön, aber leider vollkommen unzureichend. Vor allem geht sie am wirklichen Problem vorbei. Das Problem besteht ja nicht darin, dass man so schlecht von Hamburg nach Berlin kommt. Das Problem ist, dass einige Regionen überhaupt keine Bahnanbindung mehr haben. Wenn man zum Beispiel von der schönen Altmark nach Berlin fahren möchte, ist man auf einen Rufbus angewiesen, um zunächst nach Stendal zu kommen. Aber auch von dort fährt so gut wie kein ICE mehr.

In den letzten 25 Jahren hat die Deutsche Bahn 5 400 Kilometer Bahnstrecke aus Kostengründen stillgelegt. Ganze Regionen wurden abgehängt, und das wird mit Ihrem Deutschlandtakt nicht ansatzweise rückgängig gemacht. Aber genau hier muss man doch ansetzen, um die dringend notwendigen Alternativen zum Auto zu schaffen.

(Beifall bei der LINKEN)

Und genau deshalb ist es eben nicht nachhaltig, Autofahren einfach teurer zu machen. Solange Menschen dringend auf das Auto angewiesen sind, werden sie es weiter nutzen. Es wird sie nur finanziell stärker belasten. Und das trifft insbesondere Menschen mit niedrigen Einkommen besonders hart. Die Verkehrswende muss aber so geschehen, dass sie nicht zulasten derjenigen geht, die ohnehin wenig haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir reden übrigens hier nicht nur über ein Problem auf dem Land. In meiner Heimatstadt Oldenburg, einer Stadt mit 170 000 Einwohnern, sagte mir kürzlich eine Krankenschwester, dass sie gerne den ÖPNV nutzen würde, um zur Arbeit zu fahren, dass aber, wenn sie morgens um sechs zur Frühschicht muss, noch kein Bus fährt. Ich meine, das ist genau die Klimapolitik, die Menschen nicht mitnimmt – in diesem Fall im doppelten Sinn.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)

Wo ist eigentlich die Strategie der Bundesregierung für den Individualverkehr? Man muss sagen: Deutschland hat den Umstieg auf Zukunftstechnologien hier vollkommen verschlafen. Das Ergebnis ist, dass heute Tausende Arbeitsplätze in der Automobil- und Zulieferindustrie in Gefahr sind, jetzt noch verstärkt durch die aktuelle Coronakrise. Aber es geht nicht, dass die Beschäftigten die Zeche für die von Ihnen versäumten strategischen Entscheidungen zahlen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Klimapolitik, die Menschen nicht mitnimmt, erleben wir auch in der Wohnungspolitik; denn dort werden die Kosten zum Beispiel für Wärmedämmung oder den Einbau energiesparender Heizungen wie selbstverständlich auf die Mieterinnen und Mieter abgewälzt. Aber es geht doch nicht, dass Menschen Angst haben müssen vor der energetischen Sanierung ihrer Wohnung, weil sie befürchten müssen, dass sie danach ihre Miete nicht mehr zahlen können. Das ist doch wirklich das Letzte.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine Sache ist doch wirklich klar: Wer heute Angst davor hat, morgen finanziell nicht mehr über die Runden zu kommen, der kann sich auch nicht um Nachhaltigkeit von übermorgen kümmern, Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Und wir reden hier nicht von einer verschwindenden Minderheit. Gerade musste die Bundesregierung auf unsere Nachfrage hin zugeben, dass 15 Millionen der jetzigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Alter arm sein werden.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Armutsgefährdet!)

Das ist mehr als ein Drittel der heute Beschäftigten. Hier muss die Bundesregierung dringend gegensteuern;

(Beifall bei der LINKEN)

denn ohne soziale Sicherheit sind Nachhaltigkeit und Klimaschutz nicht zu erreichen.

Aber statt genau dafür zu sorgen, laden Sie die Verantwortung für ökologische Nachhaltigkeit gerne kurzerhand beim Verbraucher ab. Konsumkritik wird geübt. Fakt ist jedoch: Viele Menschen in unserem Land haben aus finanziellen Gründen gar nicht die Möglichkeit, nachhaltig zu konsumieren. Wenn ich am Tag nur wenige Euro für Essen und Trinken zur Verfügung habe, dann habe ich kaum die Möglichkeit, im Supermarkt die teureren ökologischen Produkte zu kaufen. Das Gleiche gilt für Kleidung und für andere Verbrauchsgüter.

Aber selbst wenn alle Menschen in diesem Land genug Geld hätten, wäre es trotzdem schwierig, nachhaltig zu konsumieren, weil dafür die Transparenz fehlt. Es gibt keine nachvollziehbare Produktkennzeichnung. Auch ein Biosiegel hilft da nicht weiter; denn ein Bioapfel aus Südafrika hat eine wesentlich schlechtere Ökobilanz als ein konventionell angebauter Apfel aus der Region.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das stimmt!)

– Ja, danke. – Insgesamt mangelt es nicht an Siegeln und Kennzeichnungen. Es fehlt aber an Übersichtlichkeit und vor allem an verbindlichen gesetzlichen Kriterien.

(Beifall bei der LINKEN)

Oft genug – machen wir uns nichts vor – geht es bei den immer neuen Siegeln und Kennzeichnungen nicht um Nachhaltigkeit, sondern um Marketing. Und es geht eben nicht, dass man die Nachhaltigkeit von Produkten den Unternehmen überlässt. Die Bundesregierung muss sie in die Verantwortung nehmen. Sie muss verbindliche Regelungen aufstellen und deren Einhaltung auch kontrollieren. Denn Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Unternehmen wie Nestlé oder Bayer/Monsanto die Gewinnmaximierung für ihre Aktionäre freiwillig an den Nagel hängen, um stattdessen ökologisch nachhaltige Produkte herzustellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Nestlé zum Beispiel ist ein Konzern, der in Südafrika Wasserrechte kauft und auch in schwersten Dürrezeiten die lebenswichtigen Wasserreserven dort leerpumpt, um dann dieses Wasser in Plastikflaschen weltweit teuer zu verkaufen.

Oder denken Sie an Bayer/Monsanto, die Milliardenumsätze zum Beispiel mit dem krebserregenden Glyphosat machen, die auf skrupellose Art und Weise Landwirte im globalen Süden in die Abhängigkeit von ihrem Saatgut und ihren Pflanzengiften treiben und damit Ökosysteme zerstören und die Menschen in der Region krank machen. Sie erwarten hier nicht ernsthaft freiwilliges moralisches Verhalten. Das kann wirklich nicht Ihr Ernst sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer an diesen Zuständen etwas ändern will, der braucht den Mut und den Willen, sich mit den mächtigen Konzernen anzulegen, mit den Konzernen, die von diesem umwelt- und klimaschädlichen System hemmungslos profitieren. Aber an diesem Mut und diesem Willen mangelt es der Bundesregierung. Frau Ministerin Klöckner dreht lieber Werbevideos mit Nestlé-Managern. Statt die EU-Ratspräsidentschaft dafür zu nutzen, die dringend notwendige Agrarwende einzuleiten und endlich konsequent nachhaltige Landwirtschaft zu fördern, treibt die Bundesregierung lieber das Freihandelsabkommen mit dem Mercosur voran. Das wird unter anderem dazu führen, dass noch mehr Futtermittel aus Südamerika für die furchtbare industrielle Massentierhaltung importiert wird. Dafür wird dann zum Beispiel in Brasilien noch mehr Regenwald gerodet, und die grüne Lunge der Welt wird weiter vernichtet. Das muss ein Ende haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich fasse zusammen: Echte Nachhaltigkeit braucht soziale Sicherheit. Und es braucht eine Regierung, die den Mut hat, sich gegen die Profitinteressen der Konzernlobbyisten zu stellen, um Klimaschutz, die Rettung der Artenvielfalt und den Erhalt unserer Ökosysteme durchzusetzen. Für beides kämpft Die Linke.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)