DIE LINKE im Bundestag
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Matthias W. Birkwald

Doppelverbeitragung: Betriebsrentnerinnen und -rentner müssen weiter auf Entlastung warten.

„Wegen der schleppenden Umsetzung und der katastrophalen Informationspolitik der Krankenkassen und des Gesundheitsministeriums droht aber auch diese Minireform nun nach hinten loszugehen“, warnt der Rentenexperte der Linken, Matthias W. Birkwald

11.08.2020
Impressionen von der Kundgebung der Direktversicherungsgeschädigten e.V. am 27.01.2016 vor dem Reichstagsgebäude

Im vergangenen Dezember beschloss die große Koalition mit einem Freibetrag von 159,25 Euro zumindest Bezieher kleiner Betriebsrenten zu entlasten. Zwar gilt dieser seit dem 1. Januar 2020, doch bei den meisten Betriebsrentnern wird er bis heute nicht angewendet. „Wegen der schleppenden Umsetzung und der katastrophalen Informationspolitik der Krankenkassen und des Gesundheitsministeriums droht aber auch diese Minireform nun nach hinten loszugehen“, warnt der Rentenexperte der Linken Matthias W. Birkwald. Peter Thelen hat  in einem Tagesspiegel Background-Artikel alle Hintergründe recherchiert.

Einen sehr guten Artikel dazu gab es auch in der Münchner Abendzeitung vom 20. August 2020.

Seit dem 1.1.2020 warten Millionen Betriebsrentnerinnen und Betriebsrentner auf eine Entlastung bei ihren Krankenversicherungsbeiträgen. Im Unterschied zur gesetzlichen Rente, zahlen sie das Doppelte. Aber die Umsetzung wird von den Krankenkassen verschleppt. Eigentlich sollten die Probleme bis Mitte des Jahres weitgehend behoben sein. Aber nun wird der 1. Oktober als neue Zielmarke genannt.

Begonnen hat die Recherche mit Briefen von großen Krankenkassen, die uns Betroffene übermittelten. Darin hieß es frech: „Leider wurde noch nicht entschieden, wie der Freibetrag für Versorgungsbezüge angewandt wird und wer für die Berechnung der Beiträge verantwortlich ist. Wir rechnen mit einer Entscheidung seitens des Gesetzgebers bis Oktober 2020.“ Immerhin wird dem Kunden versichert, dass seine Entlastung auch rückwirkend vollständig ausgezahlt wird.

Worum es bei der Entscheidung des Gesetzgebers - also des Bundestags -gehen soll, bleibt völlig schleierhaft, denn das entsprechende Gesetz wurde bereits im Dezember 2019 verabschiedet. Seit dem 1. 1. 2020 gilt auf Betriebsrenten eine ermäßigte Krankenkassenbeitrags-Pflicht.

Im Tagesspiegel Background Artikel fasst Peter Thelen den Hintergrund wie folgt zusammen: Seit 2004 eine rot-grüne Bundesregierung – Sozialministerin war damals Ulla Schmidt (SPD) – in einer Nacht- und Nebelaktion die volle Beitragspflicht zur gesetzlichen Krankenversicherung auf Betriebsrenten einführte, gab es dagegen große Widerstände. Bis heute wehren sich Betroffene vor den Gerichten gegen die als ungerecht empfundene Verpflichtung, von der betrieblichen Zusatzversorgung zur gesetzlichen Rente einen doppelten Krankenkassenbeitrag zu zahlen. Schließlich wird auf die gesetzliche Rente nur der Arbeitnehmeranteil des Kassenbeitrags fällig. Vor allem der Verein der Direktversicherungsgeschädigten machte Druck. Denn den Direktversicherten war beim Abschluss ihrer Versicherungsverträge sogar die steuer- und beitragsfreie Auszahlung ihrer Kapitallebensversicherung versprochen worden.

Die Proteste hatten Erfolg. Im vergangenen Dezember beschloss die große Koalition aus SPD und Union nach langem Ringen mit einem Freibetrag von 159,25 Euro zumindest Bezieher kleiner Betriebsrenten zu entlasten. Der Freibetrag gilt seit 1. Januar 2020. Doch bei den meisten Betriebsrentnern wird er bis heute nicht angewendet.

Die dafür von den Krankenkassen angeführten Begründungen klingen zum Teil abenteuerlich.“

Matthias W. Birkwald, Rentenexperte der Bundestagsfraktion DIE LINKE kritisiert das scharf:

„Ende 2019 war ich sehr froh, dass die 15 Jahre währende Ungerechtigkeit der vollen Beitragsbelastung  mit Krankenversicherungsbeiträgen von Betriebsrentnerinnen und -rentnern endlich von der Bundesregierung anerkannt wurde. Durch den neuen Freibetrag sollten zumindest kleine Betriebsrenten in der Zukunft höher entlastet werden. Die langjährige Hartnäckigkeit der LINKEN im Bundestag hatte sich endlich ausgezahlt.

Wegen der schleppenden Umsetzung und der katastrophalen Informationspolitik der Krankenkassen und des Gesundheitsministeriums droht aber auch diese Minireform nun nach hinten loszugehen. Es darf nicht sein, dass die Betroffenen noch länger auf die Neuberechnung und Entlastung ihrer Beiträge warten müssen. Das Gesetz wurde am 12. Dezember vergangenen Jahres im Bundestag verabschiedet. Ich weiß nicht, auf welche „politische Entscheidung“ die Krankenkassen jetzt noch warten anstatt mit Hochdruck die Beiträge neu zu berechnen und anzupassen.

Alle Beteiligten wussten spätestens seit Dezember 2019 um die technischen Herausforderungen. Auf unsere Nachfrage hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im Februar 2020 erklärt, dass eine Auszahlung erst zum Ende des Jahres 2020 nicht hinnehmbar sei. Jetzt ist es August.

Ich fordere Minister Spahn - und vor allem den GKV-Spitzenverband sowie die Zahlstellen der Betriebsrenten - auf, unverzüglich die technischen Voraussetzungen für eine korrekte Auszahlung und die entsprechende Nachzahlung zu schaffen und die Betroffenen öffentlich und verbindlich zu informieren. Anderenfalls wird sich der Frust der Betroffenen über die eh schon bescheidene Entlastung nur noch vergrößern.“

Peter Thelen hat die Hintergründe für die schleppende Umsetzung recherchiert:

„Das hat mit dem komplizierten Verfahren zu tun, das beim Einzug der Krankenkassenbeiträge auf Versorgungsbezüge zur Anwendung kommt. Bei pflichtversicherten Arbeitnehmern führt der Arbeitgeber als Zahlstelle die Sozialabgaben vom Lohn ab. Bei Versorgungsbezügen dagegen können verschiedene Zahlstellen zuständig sein.

Hat der Versicherte zum Beispiel neben einer Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst eine Direktversicherung mit Kapitalausschüttung und eine Hinterbliebenen-Betriebsrente vom verstorbenen Ehepartner, muss der neue Freibetrag gleich bei drei Zahlstellen berücksichtigt werden. Entsprechend groß ist der Abstimmungsbedarf vor allem bei Versicherten, die mehrere Versorgungsbezüge haben.

Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber den Zahlstellen für die Meldung der neuen Beiträge an die Krankenkassen bis zum 1. Oktober Zeit gegeben. Er wusste also schon bei Verabschiedung der Freibeträge zum 1. Januar 2020, dass es bei der Umsetzung gewaltig ruckeln würde und hat den dadurch ausgelösten Unmut bei den Betroffenen in Kauf genommen.“

Und der Tagesspiegel hat noch mehr Frustpotential herausgefunden:

„So erklärten zwar mehrere Krankenkassen auf Anfrage des Tagesspiegel Background, dass der Freibetrag ab 1. Oktober zügig bei allen Betriebsrentnern berücksichtigt werde. „Wir haben Informationen von den Zahlstellen, dass sie diese Frist einhalten werden“, hieß es. Und eine Sprecherin der TK betonte, dass die Auszahlung dann automatisch rückwirkend erfolge: „Niemand verliert einen Cent.“ Doch ob das zur Beruhigung ausreicht, muss sich zeigen.

Denn die verspätete Berücksichtigung des Freibetrags bedeutet in jedem Fall für die Betroffenen einen Liquiditätsverlust. Genau aus diesem Grund sieht das Sozialgesetzbuch für solche Fälle verspäteter Zahlung eigentlich vor, dass der entstandene Erstattungsanspruch mit vier Prozent verzinst werden muss. Genau diese Gesetzesbestimmung aber hat Spahn für die Umsetzung der Freibetragsregelung vorsorglich bis zum 31.Dezember 2020 außer Kraft gesetzt.

Da können sich die Betriebsrentner freuen, die nur einen Versorgungsbezug haben. Denn bei ihnen haben die Zahlstellen vielfach bereits den neuen Freibetrag stillschweigend angewendet. Dies belegt auch die Statistik, die das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) über die Beitragseinnahmen aus Versorgungsbezügen führt. Diese liegen seit Mai in langsam wachsendem Umfang unter Vorjahresniveau. Im Juni betrug das Minus 7,8 Prozent. Dies sei vor allem auf den neuen Freibetrag zurückzuführen, betonte eine Sprecherin des BAS auf Anfrage. Denn Versorgungsbezüge seien anders als Löhne und Gehälter, weder was ihre Zahl noch was ihre Höhe angeht, von den Folgen der Corona-Pandemie nicht betroffen.“

LINK zum bezahlpflichtigen Artikel: https://background.tagesspiegel.de/gesundheit/entlastung-der-betriebsrentner-nicht-vor-oktober?

 

LINK zur Antwort von Minister Jens Spahn auf unsere erste Nachfrage im Februar 

https://www.matthias-w-birkwald.de/de/article/2170.betriebsrentner-müssen-warten.html