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Die Bevölkerungspyramide ändert sich

"Entgegen früheren Prognosen schrumpft Deutschland nicht, im Gegenteil: Die Bevölkerung ist mit 83 Millionen auf eine Rekordmarke gestiegen." berichtet Ingeborg Breuer im Deutschlandfunk

22.10.2019
Ingeborg Breuer

Entgegen früheren Prognosen schrumpft Deutschland nicht, im Gegenteil: Die Bevölkerung ist mit 83 Millionen auf eine Rekordmarke gestiegen. Die Geburten nehmen zu, es gibt mehr Zuwanderer und Hochbetagte, doch die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Das hat Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Bevölkerung.

„Die demografische Entwicklung wurde und wird oft zum Anlass genommen, düstere Szenarien zu zeichnen. Vor 20 Jahren dominierten Krisenszenarien wie: die Deutschen sterben aus. Steigende Zuwanderung führt zu Überfremdung. Die wachsende Vergreisung  bedroht den Wirtschaftstandort Deutschland.“

So der Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung Prof. Norbert Schneider auf einer Pressekonferenz im September dieses Jahres. Und wirklich: Im Jahr 2006 zum Beispiel mahnte der prominente Bevölkerungsforscher Herwig Birg: „Es ist 30 Jahre nach 12“.  Für ihn war es ausgemacht, dass Deutschland vergreist, kaum mehr Kinder geboren werden und die Städte schrumpfen.

„Heute sehen wir nach wenigen Jahren, dass einige dieser Szenarien so nicht eintreten werden.“

Prognosen haben sich geändert

Zum Beispiel: entgegen früheren Prognosen schrumpft Deutschland zurzeit nicht. Ganz im Gegenteil – es wächst. Die Bevölkerung ist mit 83 Millionen auf eine Rekordmarke gestiegen. Warum, erläutert Manuel Slupina, Ressortleiter Demografie Deutschland vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Das Institut veröffentlichte in diesem Jahr einen Bericht zur demografischen Lage der Nation:

„Das lag daran, dass sehr viele Menschen aus dem Ausland nach Deutschland gekommen sind, also wir eine hohe Nettozuwanderung haben, die man so nicht vorhergesehen hatte. Und das hat dazu geführt, dass wir wieder auf dem Wachstumspfad sind und dass heute in Deutschland mehr Menschen leben als jemals zuvor.“

In den letzten fünf Jahren stieg die Bevölkerungszahl deshalb um über zwei Millionen.

„Im Anfang, also so 2011/2012 war es so, dass die meisten, die nach Deutschland gekommen sind, aus anderen europäischen Ländern kamen, besonders aus Osteuropa, aber auch aus dem Süden, den Krisenländern, Spanien, Italien, Griechenland. Und dann kamen natürlich mehr Menschen aus Drittstaaten, aus Krisenregionen, Syrien, Irak.“

Schon 2017 aber überwog wieder die Zuwanderung aus osteuropäischen Staaten wie Bulgarien, Polen und Rumänien. Doch Zuwanderung ist nicht der einzige Grund für die wachsende Bevölkerung. Seit einigen Jahren ist in Deutschland ein –  wenn auch kleiner – „Babyboom“ zu verzeichnen. Lag die Geburtenrate im Jahr 2009 noch bei durchschnittlich 1,36 Kindern pro Frau, ist sie mittlerweile auf 1,57 Kinder gestiegen. Bettina Sommer, Leiterin des Referats  „Natürliche Bevölkerungsbewegungen, demografische Analysen, Vorausberechnungen“ vom Statistischen Bundesamt:

„Wenn man sich das Jahr 2011 anguckt, da kamen ungefähr 660.000 Kinder zur Welt, aktuell sind es 780.000 oder um die 790.000 Kinder, die pro Jahr in Deutschland geboren werden.“

Auffällig ist, dass auch bei älteren Frauen über 35 ein Geburtenanstieg zu verzeichnen ist. Für Bettina Sommer ist das nicht zuletzt ein positiver Effekt der Familienpolitik der zurückliegenden Jahre.

„Das Elterngeld wurde eingeleitet, die Kindertagesbetreuung ist erheblich ausgebaut worden. Und wir haben die letzten zehn Jahre auch eine positive wirtschaftliche Entwicklung mit relativ niedriger Arbeitslosigkeit und guten Aussichten. Und das alles zusammengenommen hat so günstige Rahmenbedingung geschaffen, dass Paare sich ihren Kinderwunsch erfüllen konnten.“

Doch auch hier spielt die gestiegene Zuwanderung eine große Rolle. Denn dadurch nahm ja auch die weibliche Bevölkerung im gebärfähigen Alter zu. Und nach den Zahlen des Berlin-Instituts gebären Frauen mit deutschem Pass derzeit im Schnitt 1,45 Kinder, Frauen mit ausländischem Pass aber 2,15.

„Da haben wir durch die Schutzsuchenden auch Frauen aus Gebieten, in denen man mehr Kinder hat als in Deutschland. Und wir sehen auch, dass diese Gruppen im Moment die größte Gruppe an ausländischen Müttern stellt. Also heute bekommen mehr Frauen aus Syrien ein Kind als Frauen mit türkischer Staatsangehörigkeit. Und weiterhin eine größere Rolle spielen die Frauen aus den Erweiterungsländern der EU. Also als dritte Gruppe, was die Geburtenzahl von ausländischen Müttern angeht, haben wir derzeit Frauen aus Rumänien und Bulgarien, wenn man die zusammen nimmt.“

Deutschland wird bunter

Gäbe es keine Zuwanderung würde Deutschland also schrumpfen, denn die Zahl der Sterbefälle übersteigt hierzulande die Zahl der Geburten. „Zu „bunter“ gibt es keine Alternative“ heißt es denn auch beim Berlin-Institut. Wenngleich das Institut auch kritisch anmerkt, dass die Zuwanderung bislang „keineswegs nach Plan“ erfolgte, sondern, so wörtlich, „überwiegend erratisch“. Der vormalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Demografie Tilman Mayer formulierte in der FAZ noch schärfer:

„In der Einwanderung sieht man eine Lösung, verwechselt aber oft bereits Asyl- mit Migrationspolitik“.

Fakt ist jedenfalls: Schon jetzt haben 20,8 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund. Salopp gesagt, sind keine „Bio-Deutschen“.  Ein Drittel dieser Gruppe stammt aus EU Ländern. Auch Spätaussiedler zählen übrigens zu den Deutschen mit Migrationshintergrund.

„Das sind ein Viertel der Bevölkerung, 25,5 Prozent. Dann haben wir einen deutlichen Unterschied, was das Alter angeht. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist sehr viel jünger und der Anteil derjenigen, die einen Migrationshintergrund haben, der steigt. Je jünger die betrachtete Altersgruppe wird, wenn man sich die Kinder unter zehn Jahren heranzieht, dann haben 40 Prozent aus dieser Altersgruppe einen Migrationshintergrund. Die Zahl nimmt zu, weil es Geburten in dieser Gruppe gibt und weil es noch Zuwanderung gibt.“

Der Migrationsforscher Jens Schneider von der Uni Osnabrück diagnostiziert deshalb einen – in vielen Ländern zu verzeichnenden – Trend, wonach die bisherige Mehrheitsgesellschaft ihre zahlenmäßige Dominanz verliert. Ein unausweichlicher Prozess, so Jens Schneider, bei dem die große Zahl der Geflüchteten der letzten Jahre aber kaum eine Rolle spielt. Es sind Spätaussiedler, Arbeitsmigranten aus den Mittelmeerländern, vietnamesische Boat-People, die Geflüchteten des Jugoslawienkriegs und deren Kinder und Kindeskinder, die alle zusammen die neue Vielfalt ausmachen.

„Wir haben mit Frankfurt tatsächlich eine Stadt die 2016 die 50 Prozent Hürde genommen hat. Aber wir haben einige Städte, die da relativ flott hinterherkommen und wo es nur eine Frage von einigen wenigen Jahren sein wird, bis die die 50 Prozent Hürde knacken werden, während das in Hamburg oder Berlin noch ein bisschen länger dauern wird.“

„Mehrheitlich-Minderheiten-Städte“ nennt Jens Schneider solche „superdiversen“ Metropolen, wie es London oder Amsterdam, hierzulande aber auch mittelgroße Städte wie Offenbach oder Sindelfingen sind. Städte, in denen es keine Mehrheit, sondern nur noch viele Minderheiten gibt.

„Der Faktor Flüchtlinge, der Faktor „Neuhinzugewanderte“, der Faktor EU-Ausländer, da macht sich der demografische Wandel bemerkbar, das bewegt sich alles im einstelligen Bereich. Zum Beispiel Syrer sind jetzt in Hamburg die größte Einwanderergruppe mit 0,8 Prozent der Bevölkerung oder vielleicht sechs Prozent der gesamten ausländischen Bevölkerung der Stadt. Demografisch ist das nicht das Ding, das uns beschäftigt. Das was uns beschäftigt, ist die zweite und dritte Generation, die die hier geboren sind als Kinder von Einwanderern oder als Enkel, was jetzt die dritte Generation wäre. Hier noch mal am Beispiel Sindelfingen, wo man sehen kann, dass bei den unter 18-Jährigen weit über 80 Prozent schon hier geboren, aufgewachsen sind und deswegen unsere neuen einheimischen Kinder sind. Daraus ergeben sich verschiedene Herausforderungen.“

Herausforderungen, von denen noch unklar ist, wie gut Deutschland ihnen gewachsen ist. Zwar sieht Jens Schneider die zunehmende Diversität unserer Gesellschaft als Bereicherung, förderlich für Demokratie und Weltoffenheit. Aber Fakt ist auch, dass von den Zugewanderten im erwerbsfähigen Alter 2017 mehr als jeder siebte keinen Schulabschluss hatte, unter den Geflüchteten waren es sogar noch mehr. Und auch die Kinder von Zuwanderern „erben“  von ihren Eltern oft die „Bildungslücke“. Sie verlassen die Schule dreimal so häufig ohne Abschluss wie ihre einheimischen Altersgenossen. Zugleich allerdings gibt es auch Gruppen unter den Zugewanderten mit hohen Bildungsaspirationen:

„Da gibt’s zwei Auffälligkeiten. Zum einen sind unter den Personen mit Migrationshintergrund mehr, die keinen Schulabschluss haben, das macht 13 Prozent aus. Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund sind das weniger als zwei Prozent. Aber auf der anderen Seite haben von denen mit Migrationshintergrund 37 Prozent Fachhochschulreife oder Abitur und das sind mehr als bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, da sind’s 33 Prozent. Daraus sieht man, dass sich diese Bevölkerung mit Migrationshintergrund aus ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zusammensetzt.“

Deutschland wird weiter schrumpfen und altern

Aber auch wenn sich Deutschland zurzeit in einer Art „demografischem Zwischenhoch“ befindet, ändert sich nichts am grundsätzlichen Trend, den die Statistik schon seit etlichen Jahren feststellt. Nach der „14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung“, die das Statistische Bundesamt im Juni veröffentlichte, wird die Einwohnerzahl von jetzt 83 Millionen zwar noch etwa fünf Jahre lang steigen. Aber spätestens 2040 wird ein Rückgang einsetzen, rechnet Bettina Sommer vor:

„Wir haben also ständig ein Geburtendefizit zu erwarten und solange die Zuwanderung aus dem Ausland dieses Defizit überwiegt, wächst auch die Bevölkerung. Und jetzt haben wir in unserer letzten Vorausberechnung verschiedene Varianten durchgerechnet. Und wenn man eine moderate Entwicklung der Geburtenhäufigkeit also ungefähr auf dem jetzigen Stand annimmt, eine moderate Entwicklung der Lebenserwartung und auch der Zuwanderung, dann kommen wir bis zum Jahr 2060 auf einen Rückgang der Bevölkerung auf von heute 83 Millionen auf 78 Millionen. Wir haben aber noch eine höhere Zuwanderung berechnet, von 311.000 Personen. Und nach der Variante würde sich die Bevölkerung noch bis Anfang der 2030er-Jahre etwas erhöhen auf über 84 Millionen und dann anschließend langsam zurückgehen und 2060 wieder auf dem heutigen Niveau liegen.“

Vor allem aber wird – trotz Geburtenzuwachs und Zuzug jüngerer Migranten – die Alterung der Bevölkerung nicht gestoppt. Die Zahl der Rentner wird auch in Zukunft wachsen, erst recht die Zahl der über 80-Jährigen. Manuel Slupina vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung:

„Das ist eine der größten Herausforderungen, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt bis 2035. Ein Großteil der Menschen, die heute beschäftigt sind und zum Wohlstand beitragen, gehört der Baby-Boomer-Generation an. Und die wird bis 2035 den Arbeitsmarkt verlassen. Und die Lücken, die die in die Belegschaften reißen, sind ziemlich groß. Und die können die nachfolgenden Generationen nicht schließen.“

Norbert Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, kam allerdings in seiner aktuellen Studie zu dem Schluss, dass die Verrentung der Babyboomer keinen Arbeitskräftemangel zu Folge haben muss.

„Köpfe allein zählen nicht. Entscheidend ist das Verhalten der Menschen und hier das von ihnen erbrachte gesamte Arbeitsvolumen in Arbeitsstunden. Und da lassen sich doch eine ganze Reihe von positiv anmutenden Entwicklungen erkennen. Einmal der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit. Wir haben in der Zeit 2004 und 2018 einen Anstieg der Frauenerwerbsquote von 59 auf 73 Prozent. Dann noch wichtiger die Zunahme der Erwerbstätigkeit im höheren Lebensalter. Bezogen auf die 60– bis 64-Jährigen haben wir einen Anstieg der erbrachten Arbeitsstunden pro Woche von 11,2 auf 21,6, fast eine Verdopplung. Und drittens, dass der Anteil der höher Gebildeten weiter zunehmen wird. Und wir wissen, dass höher gebildete Menschen intensiver ins Erwerbssystem integriert sind und mehr Arbeitsstunden leisten als niedrig Gebildete.“

Norbert Schneider gibt also Entwarnung. Die Lücke, die die ausscheidenden Babyboomer bei den geleisteten Arbeitsstunden hinterlassen, könne durch steigende Erwerbstätigkeit von Frauen und Älteren nahezu kompensiert werden – erst recht wenn diese Steigerung durch lebenslange Bildung oder Schaffung attraktiver Arbeitsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt gefördert werde. Aber gibt es heute nicht schon einen sich abzeichnenden Fachkräftemangel –, in Pflege, im Erziehungssektor oder im Handwerk? Auch den glaubt Schneider durch höhere Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen abmildern zu können. Doch er weiß auch:

„Gegenwärtig stehen neue demografische Bedrohungsszenarien im Fokus. Zum Beispiel abgehängte Regionen drohen den Anschluss zu verlieren.“

Die Lebensverhältnisse in verschiedenen Regionen der Republik, werden sich weiter spreizen. Zu diesem Schluss kamen die Wissenschaftler des Berlin-Instituts und der Wüstenrot-Stiftung. Sie veröffentlichten im Sommer den sogenannten „Teilhabe-Atlas“. Und stellten darin fest, dass das erklärte Ziel der Bundesregierung für „gleichartige Lebensverhältnisse“ im ganzen Land zu sorgen, mehr Wunsch als Wirklichkeit ist. Stattdessen werde weiterhin von einer „Vielfalt der Lebensbedingungen“ auszugehen sein.

„Auch wenn wir sagen, dass bis 2035 in Deutschland die Bevölkerungszahlen relativ stabil sind, sehen wir auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte sehr große Unterschiede. Zum einen wachsen die Städte stark, die ziehen viele junge Bildungswanderer an, die zwischen 18 und 24 Jahren. Und das sorgt dafür, dass die Städte dieses Wachstum irgendwie organisieren müssen. Wohnungsmangel, höhere Mieten, da sind dann Lösungen gefragt. Zum anderen erleben wir aber auch, dass gerade in den entlegenen ländlichen Regionen die jungen Leute dann auch da in der Alterspyramide fehlen. Und die Regionen verlieren die Möglichkeit, wirtschaftlich aufzuschließen, weil es wenige Fachkräfte gibt, die da für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, die natürlich auch der Mittelstand der in diesen Regionen zu Hause ist, braucht.“