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Matthias W. Birkwald

Endlich ein Rentensystem, das den Menschen die Angst vor der Zukunft nimmt

Rentenversicherung stärken und solidarisch ausbauen – Solidarische Mindestrente einführen

01.03.2012
Redebeitrag von Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.) am 01.03.2012 um 10:50 Uhr (162. Sitzung, TOP 4)

Erste Lesung des Antrages der LINKEN „Rentenversicherung stärken und solidarisch ausbauen – Solidarische Mindestrente einführen“ (BT-Drs. 17/8481, v. 25.01.2012) am 01.03.2012 im Deutschen Bundestag

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Sage und schreibe 112 000 Menschen gehen jenseits ihres 75. Geburtstages einem Minijob nach. Älter als 65 sind mehr als 760 000 der Minijobberinnen und Minijobber. Zwei Drittel davon sind Frauen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Einen Augenblick, bitte! Könnten wir uns vielleicht darauf verständigen, dass notwendige Gespräche an passenderer Stelle geführt werden?

(Beifall bei der LINKEN)

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Herzlichen Dank, Herr Präsident. ‑ Karin Schäfer, 68 Jahre alt, aus Blankenfelde bei Berlin ist eine von ihnen. Sie geht putzen. Dabei hat sie ihr Leben lang gearbeitet. Sie hat 35 Jahre als Verkäuferin und als Kassiererin Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt, und sie hat drei Kinder erzogen. Nun bleiben ihr nur magere 599 Euro gesetzliche Rente. Weitere Alterseinkünfte hat sie nicht, und auch nichts auf der hohen Kante. Das reicht hinten und vorne nicht. Sie sagt:

Ich muss arbeiten gehen, mein ganzes Leben lang. Keine Ahnung, wovon ich leben soll, wenn das mal nicht mehr geht.

Für Karin Schäfer und für hunderttausende weiterer Seniorinnen und Senioren gibt es keinen Ruhestand. Ihr Schicksal heißt: Malochen bis zum Tode. Dieses Schicksal ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist politisch gemacht. Darum kann man es auch politisch ändern. Dazu ist es allerhöchste Zeit.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, 14 Prozent der Menschen im Rentenalter gelten heute als arm. Immer mehr Rentnerinnen und Rentner sind auf die Grundsicherung im Alter angewiesen. Sie liegt bei 688 Euro im Monat - im Schnitt. Mehr als 400 000 Menschen über 65 Jahre müssen damit auskommen. Altersarmut ist also schon heute ein Problem. Genau das Problem will die Linke lösen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die einen spüren die Altersarmut Monat für Monat, wenn sie feststellen müssen, dass das Geld vorne und hinten nicht reicht. Die anderen spüren die Altersarmut als Furcht vor einer ungewissen Zukunft; denn sie wissen, dass aus einem langen Arbeitsleben mit schlecht bezahlten Jobs, mit Leiharbeit und immer wieder unterbrochenen befristeten Beschäftigungsverhältnissen oder unfreiwilliger Teilzeitarbeit kein Anspruch auf eine auskömmliche Rente entsteht. Diejenigen, die lange Jahre arbeitslos sind oder waren, wissen genau, dass ihnen die Altersarmut droht, weil für Langzeiterwerbslose nur niedrige oder dank CDU/CSU und FDP nun gar keine Beiträge mehr an die Rentenversicherung überwiesen werden.

Aber auch wer lange Jahre Beiträge eingezahlt hat, macht sich Sorgen, weil die Renten der Neurentnerinnen und Neurentner von Jahr zu Jahr sinken. Selbst für Menschen, die 35 Jahre und länger erwerbstätig waren und in die Rentenkasse eingezahlt haben, sinkt die Rente. Wer vor zwölf Jahren nach langjähriger Versicherung neu in Rente ging, erhielt im Durchschnitt noch 1 020 Euro Rente. 2010 erhielten solche Neurentnerinnen und Neurentner im Durchschnitt nur noch eine Rente in Höhe von 919 Euro. Bei den Frauen waren es nur 597 Euro.

Nach den geltenden Gesetzen wird das Rentenniveau weiter sinken. Das ist der falsche Weg. Wir brauchen endlich wieder ein Rentensystem, das den Menschen die Angst vor der Zukunft nimmt.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, eine gute Rentenpolitik muss an zwei Punkten gemessen werden: Die gesetzliche Rentenversicherung muss zum einen den einmal durch gute Arbeit erreichten Lebensstandard sichern und zum anderen die Menschen zuverlässig vor Altersarmut schützen. Beides schafft die gesetzliche Rente schon heute nicht - von morgen oder übermorgen ganz zu schweigen. Wir brauchen also eine grundlegende Reform der gesetzlichen Rentenversicherung.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb schlägt die Linksfraktion vor, die gesetzliche Rentenversicherung zu einer solidarischen Rentenversicherung auszubauen, die den Lebensstandard sichert und die eine solidarische Mindestrente enthält. Denn die Linke will, dass niemand im Alter von weniger als 900 Euro leben muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesetzliche Rente soll den einmal erreichten Lebensstandard wieder sichern. Das bedeutet aber, dass jede Frau und jeder Mann ganz realistisch auch die Möglichkeit haben muss, sich einen guten Lebensstandard erarbeiten zu können.

(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Richtig!)

Nur so ist eine im Kern lohnbezogene Rente auch sozial gerecht.

Viele Menschen haben diese Chance aber nicht. Sie sind bereits vor dem Rentenalter arm, und wenn wir nichts ändern, werden sie es wahrscheinlich auch im Rentenalter bleiben. Das gilt insbesondere für diejenigen, die es auf dem Arbeitsmarkt schwer haben, wie zum Beispiel Alleinerziehende ohne Kinderbetreuung, Beschäftigte, die zu miesen Konditionen und niedrigen Löhnen arbeiten müssen, Hartz-IV-Betroffene, die lange Zeit keinen Job finden, oder Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nur eingeschränkt oder gar nicht mehr arbeiten können, die also erwerbsgemindert sind. Für sie alle müssen wir dringend etwas tun. Denn auch sie haben ein Recht darauf, in Würde alt zu werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, allen sozial denkenden Menschen muss es doch darum gehen, Armut gar nicht erst entstehen zu lassen.

(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Richtig!)

Armut in der Erwerbsphase zu bekämpfen, hilft, Armut im Alter zu vermeiden.

Jede moderne Alterssicherungspolitik muss darum am Arbeitsmarkt ansetzen, deswegen sagt die Linke: Wer von Altersarmut spricht, darf von prekärer Beschäftigung, also von schlechter und unsicherer Arbeit, nicht schweigen. Hier müssen wir ran.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, das, was die Menschen brauchen, ist gute Arbeit. Gute Arbeit ist eine Beschäftigung, die sicher, geregelt und sozial geschützt ist und die vor allem so gut bezahlt wird, dass man in Vollzeit auch davon leben kann. Darum brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro brutto in der Stunde.

(Beifall bei der LINKEN)

Darum muss der soziale Schutz auch für die Minijobs gelten, deshalb soll künftig jede Stunde Erwerbsarbeit sozialversicherungspflichtig sein und für die Rente zählen. Das nützt vor allem den Frauen.

(Beifall bei der LINKEN)

Gute Arbeit bedeutet auch, dass Frauen endlich nicht nur genauso viel verdienen wie die Männer, sondern dass sie das auch bekommen, und dass Männer und Frauen Familie und Beruf wirklich miteinander vereinbaren können.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, eine gute, den Lebensstandard sichernde Rente ist ohne ein vernünftiges Sicherungsniveau nicht möglich. Die Rentenkürzungen der vergangenen Jahre müssen einmalig ausgeglichen und die Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel gestrichen werden. Nach mehr als 20 Jahren deutsche Einheit ist es höchste Zeit, die Prinzipien „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und „Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung“ umzusetzen und das Rentenniveau Ost endlich auf das West-Niveau anzuheben.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach allem, was wir wissen, sind die Ostdeutschen in Zukunft besonders von Altersarmut bedroht, und darum ist die Angleichung an das West-Niveau besonders wichtig.

Nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück. Das wäre ein echter Beitrag zur Lebensstandardsicherung und zur Armutsvermeidung.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer bereits heute auf ein Leben voller Unsicherheit und Erwerbslosigkeit zurückblicken muss, sieht in einer den Lebensstandard sichernden Rente kein Versprechen, sondern eine Drohung. 4,6 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, und für viele von ihnen ist die Sicherung des Lebensstandards gleichbedeutend mit Altersarmut. Deswegen wollen wir den Solidarausgleich in der gesetzlichen Rente stärken und zum Beispiel die Rente nach Mindestentgeltpunkten für Beschäftigte mit niedrigerem Einkommen entfristen. Für Hartz-IV-Betroffene sollen wieder Rentenbeiträge in anständiger Höhe gezahlt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Für all diejenigen, die trotz dieser und vieler anderer von uns vorgeschlagenen Maßnahmen kein Alterseinkommen von mindestens 900 Euro erreichen, greift unser Vorschlag der solidarischen Mindestrente. Noch einmal: Die Linke will, dass niemand im Alter von weniger als 900 Euro im Monat leben muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Mindestrente soll die Lebensstandardsicherung ergänzen, sie soll sie nicht ersetzen. Wir Linken fordern seit langem einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Aber wir wollen keine Gesellschaft von Mindestlohnbeziehenden, sondern wir wollen, dass möglichst viele Beschäftigte gute Tariflöhne deutlich darüber bekommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Ziel der Linken sind gute, lohnbezogene und den Lebensstandard sichernde Renten und Alterseinkommen, die weit über der Mindestrente liegen - und das für möglichst viele Rentnerinnen und Rentner, am besten für alle. Wir fordern aber sehr nachdrücklich eine solidarische Mindestrente, damit niemand im Alter in Armut leben muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Die heutige lohnbezogene Rente ist an Vorleistungen geknüpft, die im Kern auf Beiträgen durch Lohnarbeit beruhen. Das soll auch so bleiben. Es ist so weit in Ordnung, wie die Menschen auch die Möglichkeit haben, einer guten Arbeit nachzugehen. Wenn wir aber Armut bekämpfen wollen, sind Vorbehalte fehl am Platz. Darum soll jede und jeder über 65 die Mindestrente erhalten, wenn ihr oder sein Einkommen 900 Euro netto unterschreitet - ohne Vorleistungen. Vermögen unterhalb bestimmter Freibeträge wird nicht angerechnet. Bei der aktuellen Grundsicherung im Alter beträgt der Vermögensfreibetrag nur 2 600 Euro. Das ist eine bedürftigkeitsgeprüfte Leistung. Nur wer schon sein letztes Hemd verkauft hat, hat ein Recht auf die Grundsicherung. Das wollen wir ausdrücklich nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

In der linken solidarischen Mindestrente werden darum Vermögen unterhalb von 20 000 Euro und Ersparnisse fürs Alter von 750 Euro pro Lebensjahr ebenso wenig angerechnet wie die selbst genutzte Wohnung oder das Eigenheim bis 130 Quadratmeter Wohnfläche. Die Mindestrente wird als steuerfinanzierter Zuschlag im Rahmen der Rentenversicherung verwaltet und als Rente ausgezahlt. Mindestrentner und Mindestrentnerinnen werden dann nicht mehr diskriminiert. Sie erhalten wie ihre Nachbarn und Freunde auch eine Rente.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Eine Bedürftigkeitsprüfung wollen Sie aber schon!)

Das ist wichtig; denn viele Ältere schämen sich, die Grundsicherung im Alter oder Sozialhilfe zu beantragen.

Karin Schäfer, die 68-jährige Minijobberin, sieht das auch so. Sie scheut davor zurück, Grundsicherung zu beantragen. Sie wolle keine Almosen, sagt sie. Das kann als falscher Stolz abgetan werden. Das ist aber verschämte Altersarmut. Weder das eine noch das andere träfe zu, wenn auch in der Rentenpolitik endlich wieder gälte: Sozial ist, was Würde schafft.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Zwei Kurzinterventionen im Laufe der Debatte sind unter folgenden Links einzusehen:

dbtg.tv/fvid/1582541 und dbtg.tv/fvid/1582555