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Matthias W. Birkwald

Pflege von Angehörigen macht ärmer

Die Linke fordert: „Eine durchschnittliche Pflegeleistung und der entsprechende Erwerbsverzicht müssen mindestens vergleichbar wie Kindererziehungszeiten anerkannt werden.“

14.11.2018
Peter Thelen (Handelsblatt)

Wer Angehörige pflegt und dafür auf den Job verzichtet, erhöht immer noch sein Risiko, im Alter selbst arm zu sein.

Seit etwa einem Jahr zahlt die Pflegeversicherung für Menschen, die schwer pflegebedürftige Angehörige mehr als zehn Stunden in der Woche verteilt auf zwei Tage pflegen, Pflichtbeiträge an die gesetzliche Rentenversicherung.

Ziel ist es, Zeiten der Pflege im Rentenrecht genauso zu berücksichtigen wie Zeiten der Kindererziehung. Wer pflegt, soll dadurch keine großen finanziellen Nachteile im Alter haben. Soweit die Theorie.

Nur in der Praxis wird das Ziel offenbar nicht erreicht. Dies bestätigt die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken, die dem Handelsblatt vorliegt. Danach wird der Nachteil, den der pflegende Angehörige durch den Verzicht auf einen Teil seiner Erwerbstätigkeit hat, zwar gemildert, aber bei Weitem nicht kompensiert.

Dies gilt selbst dann, wenn die Pflegeperson in ihrem Beruf immer nur das Durchschnittseinkommen verdient hat. Denn genau einen solchen Modellfall hat das Arbeitsministerium auf Anfrage der Links-Fraktion durchrechnen lassen.

Es geht um eine 1964 geborene Ostdeutsche, die 2031 das gesetzliche Rentenalter erreicht und immer nur den Durchschnittslohn von aktuell 2806 Euro im Monat verdient. Würde sie weiter bis zum Ende Vollzeit arbeiten, würde sie für die Jahre 2017 bis 2031 einen Rentenanspruch von 584,58 Euro erwerben.

Würde sie stattdessen ab diesem Jahr für die Pflege eines Angehörigen mit dem vom Medizinischen Dienst anerkannten Pflegegrad zwei Arbeitszeit und Lohn um 30 Prozent reduzieren, wären es nur 409,21 Euro. Die Beiträge, die die Pflegeversicherung für die 30 Prozent Pflegezeit überweisen würde, brächten zwar eine Zusatzrente von 151,63 Euro. Unter dem Strich bliebe aber ein Minus von 23,74 Euro im Monat.

Hätte der Angehörige den Pflegegrad drei und würde die Frau ihre Arbeitszeit deshalb halbieren, könnte sie bis 2031 nur noch einen regulären Rentenanspruch von 292,29 Euro erwerben. Über die Beitragszahlungen der Pflegeversicherung kämen noch 241,47 Euro hinzu. Macht 50,82 Euro Verlust im Monat.

Bei der durchschnittlichen Rentenbezugsdauer von Frauen von 21,6 Jahren summieren sich die Verluste auf über 6100 beziehungsweise über 13.100 Euro. Hinzu gezählt werden muss aber auch der Verlust an Erwerbseinkommen während der Zeit der Pflege. Er beträgt in den 15 Jahren Pflege ohne Lohnerhöhungen 12.600 Euro im ersten und 21.000 Euro im zweiten Fall.

Für eine gleichaltrige Durchschnittsverdienerin im Westen sähe die Lage wie folgt aus: Sie könnte wegen des höheren westdeutschen Durchschnittslohns bis 2031 im Vollzeitjob einen zusätzlichen Rentenanspruch von 634,50 erwerben.

Ginge sie, um ihren Partner (Pflegegrad zwei) zu pflegen, auf eine 70-Prozent-Stelle, wären es nur noch 444,15 Euro. Über die Beiträge der Pflegekasse an die Rentenversicherung käme eine Pflege-Rente von 165,29 Euro hinzu. Unter dem Stricht fehlten 25,06 Euro im Monat. Bei einer 50-Prozent-Stelle läge die Rentenlücke wegen der Pflege sogar bei 54,01 Euro im Monat.

Höhere Verluste bei Altersversorgung

Weit höher sind die Verluste bei der Altersversorgung für pflegende Arbeitnehmer, die mehr als den Durchschnittslohn verdienen. Dies trifft aber auf besonders viele Menschen zu, die pflegen. Sie sind meist selbst nicht mehr weit vom Rentenalter entfernt und haben daher in ihrer Einkommenskarriere oft schon den höchsten Punkt erreicht.

Die Beispiele sind repräsentativ. Auch das lässt sich aus der Antwort von Staatssekretärin Kerstin Griese ablesen. Von den Pflegenden, für die die Rentenversicherung 2016 Rentenbeiträge gezahlt hat, waren nämlich 88 Prozent Frauen.

Nur im Osten ist der Frauenanteil ein wenig geringer: Dort engagieren sich 17 Prozent der Männer so sehr, dass die Pflegeversicherung Rentenbeiträge für sie zahlen muss. Im Westen sind das nur elf Prozent. Außerdem sind die meisten Menschen, die im häuslichen Umfeld gepflegt werden, im Pflegegrad zwei oder drei. Mehr als 50 Prozent haben den Pflegegrad zwei. Weitere 27,6 Prozent den Pflegegrad drei.

Insgesamt gibt es seit 2017 fünf Pflegegrade. Sie haben die bisherigen drei Pflegestufen abgelöst. Welchen Pflegegrad der medizinische Dienst anerkennt, hängt davon ab, wie schwer es fällt, den Alltag selbstständig zu meistern.

Wer schlecht zu Fuß ist, aber noch selbst zur Toilette gehen, sich waschen, Kontakt halten kann zu Verwandten oder Freunden und seine finanziellen Angelegenheiten im Griff hat, der erhält maximal den Pflegegrad eins.

Wer dagegen nach einem Schlaganfall so stark gelähmt ist, dass er Hilfe beim Anziehen oder anderen jeden Tag anfallenden Dingen wie Waschen und Toilettengang braucht, der hat Pflegegrad zwei oder drei. Auch Menschen mit dem Anfangsstadium einer Demenz können in einem der beiden mittleren Pflegegrade landen.

Die Belastung, die Angehörige zu tragen haben, die Menschen mit so großen Problemen tagtäglich betreuen, ist immens. Viele von ihnen müssen daher auch die Unterstützung durch ambulante Pflegedienste als Sachleistung der Pflegekasse in Anspruch nehmen.

Wer dabei an seine spätere Rente denkt, wird aber alles tun, um das zu vermeiden. Denn die Rentenbeiträge, die die Pflegekasse für pflegende Angehörige zahlt, sind gestaffelt: Für Angehörige mit Pflegegrad eins gibt es nichts.

Beim Pflegegrad zwei zahlt die Pflegekasse Rentenbeiträge, als hätte der pflegende Angehörige 822 Euro verdient. Beim Pflegegrad drei beträgt das fiktive Einkommen, für das Beiträge gezahlt werden, gut 1300 Euro, bei Pflegegrad vier sind es 2100 Euro und bei Pflegegrad 5 sind es 3045 Euro in Westdeutschland.

Für ein Jahr Pflege gibt es gestaffelt nach Pflegegrad mithin eine zusätzlich monatliche Bruttorente von zwischen 8,34 und 30.90 Euro. Nimmt der pflegende Angehörige dagegen die Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes in Anspruch, gibt es nur noch einen Rentenanspruch von 5,84 bis 21,63 Euro zusätzlich pro Jahr Pflegedienst. Der Verlust im Beispielfall der 1964 geborenen Westdeutschen bei der späteren Rente erhöht sich auf 50 beziehungsweise 95 Euro im Monat. Viel Geld für einen Durchschnittsrentner.

Linke hält bisherige Regelung für unzureichend

„Nach geltendem Recht erhalten Pflegende nur dann eine annähernd so hohe Rente für ihren Einsatz wie Eltern für Zeiten der Kindererziehung, wenn sie Menschen mit einem Pflegegrad fünf pflegen.“ Dies täten aber die wenigsten, sagt Matthias W. Birkwald, Rentenexperte der Linken. Aktuelle sind etwa vier Prozent der ambulant Betreuten im Pflegegrad fünf.

Die Linke plädiert daher dafür, die Beitragsstaffel zu überprüfen. Außerdem soll es keinen Abzug bei der Rente geben, wenn ambulante Pflegedienste als Sachleistung in Anspruch genommen werden müssen.

„Das Ziel ist klar: Eine durchschnittliche Pflegeleistung und der entsprechende Erwerbsverzicht müssen mindestens vergleichbar wie Kindererziehungszeiten anerkannt werden.“ Man werde sich in den kommenden Monaten zusammen mit den Sozialverbänden dafür einsetzen, so Birkwald.

Seine Chancen sind eher gering. Zu hoch sind jetzt schon die Kosten. Schon im vergangenen Jahr stiegen die Beitragszahlungen der Pflegekassen an die Rentenversicherung um 50 Prozent auf 1,5 Milliarden Euro. Dieses Jahr sollen es nach letzten Prognosen bereits 2,2 Milliarden Euro sein. Die Besserverdiener unter den Angehörigen, die sich um Pflegebedürftige kümmern, muss das nicht ärgern.

Sie gehen heute schon auf Nummer sicher, und nutzen die ambulanten Leistungen der Pflegeversicherung und ihr hohes Einkommen, um Einbußen bei der Rente wegen Pflege zu vermeiden. Gutverdiener mit hohem sozialen Status nutzen ihr hohes Erwerbseinkommen lieber, um sich professionelle Pflegedienste einzukaufen, weiß Birgit Fix Referentin für Armutsbekämpfung beim Deutschen Caritas-Verband.

Altersarmut drohe ihnen daher auch wegen Pflege nicht. Für alle anderen gelte: „Pflegezeiten besser zu honorieren kann dazu beitragen Altersarmutsrisiken zu verringern.“

Das gelte auch für Menschen, die bereits Rente beziehen. „Wer als Hauptpflegeperson pflegt, muss deshalb auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze Rentenansprüche erwerben können“, meint auch Birkwald. Selbst die CDU ist bei diesem Thema ins Nachdenken gekommen. Ihr Rentenexperte Peter Weiß sprach sich zuletzt öffentlich dafür aus, zumindest darüber nachzudenken auch Rentner, die pflegen, in Zukunft Entgeltpunkte auf dem Rentenkonto gut zu schreiben.