100% sozial
Matthias W. Birkwald

#Ausnahmslos für Demokratie: Ein Gespräch mit Matthias W. Birkwald

Aus dem LINKSletter der LINKEN NRW

28.01.2016
DIE LINKE NRW

Köln im Januar 2016: Obwohl bisher keinerlei polizeilichen Ermittlungsergebnisse, geschweige denn rechtskräftige Verurteilungen gegen die Täter der Silvesternacht vorliegen, reißt die Debatte nicht ab. Im Gespräch mit dem LINKSLETTER berichtet nun der LINKE Bundestagsabgeordnete aus Köln, Matthias W. Birkwald, wie er die Ereignisse sieht und was er als Kölner in seiner Heimat und im Bundestag erlebt. Auch wenn Birkwald eigentlich Sozialpolitiker und Rentenexperte ist, hat der Diskurs über und nach #Köln für ihn eine zentrale Bedeutung:

"Ob #Köln zum Wendepunkt für eine ausschließlich auf Abschottung gerichtete Flüchtlingspolitik und der Rassismus der AfD damit salonfähig wird oder nicht - das ist keine innenpolitische Fachfrage, sondern eine zentrale Zukunftsfrage unserer Gesellschaft. Ich kämpfe für eine demokratische, eine solidarische und eine freie Gesellschaft. Und darum gilt es, gegen Rassismus, gegen sexuelle Gewalt und für einen laizistischen Staat einzutreten."

LL: Bisher kannten wir Deine Heimatstadt Köln als weltoffen und tolerant. Seit der Silvesternacht hat #Köln einen anderen Klang bekommen...

Matthias: Ja, zurzeit ist das so. Leider. #Köln ist mit den schrecklichen massenhaften sexistischen Übergriffen und Diebstählen durch Männer mit Migrationshintergrund am Hauptbahnhof in der Silvesternacht ein Stichwort für rassistische Hetze und einen Generalangriff auf die Willkommenskultur und eine humanitäre Flüchtlingspolitik geworden. Dazu hat auch die katastrophale Informationspolitik der Kölner Polizei beigetragen, die zu Recht zur Entlassung des Polizeipräsidenten Wolfgang Albers geführt hat.

Diese Hetze geht aber nicht von der Kölner Stadtgesellschaft aus. Eher im Gegenteil: Knapp 2000 Kölner*innen demonstrierten schon am 09. Januar in Köln gegen die von der Polizei aufgelöste Hogesa-Demonstration. Die bestand überwiegend aus landesweit angereisten Hooligans und bekannten Kadern rechtsextremer Parteien wie „pro NRW“, NPD und Die Rechte.

Dass Köln nicht vor dem Druck von rechts kapituliert, konnte ich persönlich bei einem Fachgespräch mit Aktiven aus den Willkommensinitiativen in der vergangenen Woche und bei einem Flashmob gegen rechte Gewalt der Initiative ‚Kein Veedel für Rassismus‘ erleben. Weitere Aktionen wie ein Flashmob von Frauenorganisationen gegen sexuelle Gewalt, ein spontaner Womanwalk, welchen ich persönlich mit einem Grußwort unterstützt habe, und zahlreiche Proteste antirassistischer Initiativen gegen Auftritte z.B. der AfD haben dazu beigetragen, dass das gesellschaftliche Klima in Köln bunt und nicht braun bleibt.

In einer von dem Kölner Schriftsteller Navid Kermani bemerkenswert selbstkritisch und selbstbewusst formulierten ‚Kölner Erklärung‘ haben sich wichtige Akteurinnen und Akteure der Stadtgesellschaft von Erzbischof Kardinal Woelki über den Sänger Wolfgang Niedecken bis hin zum Präsidenten des 1. FC Köln, Werner Spinner, ebenso deutlich gegen Fremdenhass und Selbstjustiz wie gegen jegliche sexuelle Gewalt und Behördenversagen ausgesprochen.

LL: Was ist denn eigentlich wirklich geschehen? Im Netz ist das ziemlich unübersichtlich. Teilweise ist von Massenvergewaltigungen und 1.000 Tätern die Rede. Mal sind es marokkanische Taschendiebe, dann wieder syrische Flüchtlinge. Weißt Du genaueres?

Matthias: Die Frage ist ehrlich gesagt schwierig zu beantworten. Gerade heute erklärte der neue Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies dem Kölner Stadt-Anzeiger, dass ein Polizist in der Silvesternacht wegen des Gedränges nicht mitbekommen habe, was zehn Meter weiter passierte. Und nach den Fehlern und vorschnellen Verallgemeinerungen der ersten Tage halten sich die Kölner Polizei und das Innenministerium NRW auf persönliche Nachfragen hin extrem bedeckt.

Dennoch zeigen die Fakten: In Köln hat es eine in Deutschland neue Erscheinungsform massenhafter sexueller Männergewalt gegeben und ein eklatantes Polizeiversagen.

Fakt 1 ist, dass bis zum Mittag des 27. Januars 945 Strafanzeigen zu den Vorgängen der Silvesternacht gestellt wurden, 559 von Opfern sexueller Übergriffe. Darunter drei wegen Vergewaltigung.

Fakt 2 ist, dass die 35 bislang namentlich bekannten Beschuldigten - bis auf einen Deutschen und zwei Syrer - Nordafrikaner sind, von denen neun in Untersuchungshaft sitzen und von denen keiner seinen Wohnsitz in Köln hat.

Fakt 3 ist, dass sowohl die Kölner Polizei, wie auch die für den Hauptbahnhof zuständige Bundespolizei so unterbesetzt waren, dass sie die Opfer nicht wirksam schützen konnten. Und: Aufgrund einer falschen Lageeinschätzung in der Nacht haben die Einsatzleitungen gemeinsam darauf verzichtet, mögliche Verstärkungen anzufordern, die durchaus bereit standen.

Sicher ist, dass die als so genannte ‚Antänzer‘ bekannten Banden von Taschendieben die Situation im Kölner Bahnhof ausgenutzt haben. Sie nutzten - übrigens auch gegenüber Männern - aufgezwungenen Körperkontakt, um von Taschendiebstählen abzulenken. Aber was im Bahnhof passiert ist, war sicherlich weit mehr als ‚nur‘ eine Masse solcher Trickdiebstähle.

Denn die massenhafte und offensichtlich von größeren Gruppen ausgeübte sexuelle Männergewalt hat eine neue und eigenständige Qualität. Und die Frage, wie diese Gewalt mit rückständigen Frauenbildern aus den Herkunftsländern, aus deren Kultur und Religion zusammenhängt oder eben nicht, dürfen wir nicht tabuisieren, wenn wir dieser Gewalt wirksam entgegentreten wollen. Und das wollen wir – ohne Wenn und Aber.

LL: Du bist Kölner und für DIE LINKE im Bundestag. Ist es schwer für Dich, den Leuten klarzumachen, dass DIE LINKE sowohl gegen Sexismus und Gewalt ist, sich aber auch gegen die Vorverurteilung von Geflüchteten wehrt?

Matthias: Im persönlichen Gespräch am Infostand, in der Nachbarschaft, dem Freundeskreis und der Familie ist das - von Ausnahmen abgesehen – gar nicht so schwierig. Entscheidend ist meines Erachtens, von Anfang an zu verdeutlichen, dass wir LINKEN ehrlich und #ausnahmslos gegen jede Form sexueller Gewalt eintreten. Und dass unser Antirassismus nichts damit zu tun hat, sexuelle Gewalt zu verharmlosen, wenn sie von Menschen begangen wird, die keine Herkunftsdeutschen sind.

Anders sieht das in den sozialen Netzwerken aus: Da werden Texte kaum ganz gelesen, und Du erntest sofort einen hammerharten rassistischen Shitstorm, wenn eine Aussage gegen sexuelle Gewalt nicht der gefühlsgetriebenen Erwartungshaltung entspricht, dass darin nach #Köln die ethnische Herkunft der Täter angesprochen wird. Zugespitzt zeigen das ja auch die Reaktionen auf mein Statement „Leute, die sich für den Schutz von Frauen nur interessieren, wenn sie von Ausländern angegriffen werden, sind Rassisten“ auf der Facebook-Seite der LINKEN NRW.

LL: Eigentlich bist Du ja Sozialpolitiker und Rentenexperte. Interessierst Du Dich überhaupt für innenpolitische Fragen?

Es stimmt schon: Ich bin mit Leib und Seele Rentenpolitiker und mache leidenschaftlich gern Sozialpolitik. Aber erstens bin ich als Fachpolitiker kein Fachidiot. Und zweitens hängt für mich mein Einsatz für soziale Gerechtigkeit, gegen Armut und für ein Leben in Würde für Alle untrennbar mit meinem Einsatz für Selbstbestimmung des Individuums, für Gleichberechtigung und für Bürger*innenrechte zusammen.

Und: Ob #Köln zum Wendepunkt für eine ausschließlich auf Abschottung gerichtete Flüchtlingspolitik und der Rassismus der AfD damit salonfähig wird oder nicht - das ist keine innenpolitische Fachfrage, sondern eine zentrale Zukunftsfrage unserer Gesellschaft. Ich kämpfe für eine demokratische, eine solidarische und eine freie Gesellschaft. Und darum gilt es, gegen Rassismus, gegen sexuelle Gewalt und für einen laizistischen Staat einzutreten.

Unsere Parteivorsitzende Katja Kipping hat in der „Frankfurter Rundschau“ vor einer Teufelsspirale gewarnt, „in der Ärmere gegen Noch-Ärmere ausgespielt werden“. Armut und Angst vor sozialem Abstieg sind keine mildernden Umstände für Rassismus, sie sind aber leider ein guter Nährboden für rassistische Hetze. Und da schließt sich auch der Kreis zur Sozialpolitik: Deshalb setzt sich DIE LINKE für eine Sozialgarantie ein, die Sozial- und Rentenkürzungen jeglicher Art jetzt verbindlich ausschließt und Alle sicher vor Armut schützt. Das muss drin sein!