Rentenpaket mit sozialer Schieflage

23.05.2014

Abschließende Lesung des Rentenpaketes der Bundesregierung

am Freitag, 23. Mai 2014 im Deutschen Bundestag

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundesministerin Nahles, mit Ihrem Rentenpaket haben Sie durchaus etwas geschafft:

Erstens. Millionen Mütter, die ihre Kinder vor 1992 bekommen haben, werden sich am 1. Juli freuen, dass die Erziehung ihrer Kinder in der Rente besser anerkannt wird,

(Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Ja!)

vor allem im Westen, etwas weniger im Osten.

Zweitens. Der im Juli 1951 geborene Industriemechaniker und die im Dezember 1952 geborene Verkäuferin, die beide 45 Jahre Beiträge in die Rentenkasse gezahlt haben, werden sich freuen, in diesem bzw. im kommenden Jahr an ihrem 63. Geburtstag ohne Abschläge in Rente gehen zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Drittens - Frau Nahles, Sie können übrigens zuhören; ich lobe Sie - wird sich die Altenpflegerin mit dem völlig kaputten Rücken, die am 1. Juli in Erwerbsminderungsrente gehen muss, über durchschnittlich 36 Euro mehr Erwerbsminderungsrente freuen.

Ja, manches wird besser.

(Zurufe von der SPD: Aha!)

Das ist gut, und das erkennt die Linke ausdrücklich an.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber vieles bleibt so schlecht, wie es ist. Das Rentenniveau sinkt für alle. Daran ändern Sie nichts.

(Thomas Oppermann (SPD): Doch!)

Das heißt, der Lebensstandard der Rentnerinnen und Rentner sinkt immer weiter.

(Thomas Oppermann (SPD): Nein! Es gibt Wachstum!)

Sie halten am Zwang zur privaten Altersvorsorge fest, und Sie halten an der unsäglichen Rente erst ab 67 fest. Das, Frau Nahles, ist unverantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, der 28-jährige Programmierer Jens Patzke aus Köln sagt zu diesen Sündenfällen, also der Rentenkürzung und der Rente erst ab 67, klipp und klar:

„Ich würde gerne zwei, drei Prozent mehr Rentenbeitrag zahlen, damit wir alle mehr Rente bekommen und früher in Rente gehen können.“

Das ist nachzulesen in der aktuellen metallzeitung.

Jens Patzke sagt zur Rente ab 63 bzw. 65:

„Es wäre gerechter, wenn die Rente ab 63 für alle gelten würde!“

Recht hat er. Die Altersgrenze soll nicht auf 65 ansteigen ‑ auch für die Jungen nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Er erkennt in dem Interview auch die Lebensleistung seiner älteren Kolleginnen und Kollegen neidlos an, im Gegensatz zu den vielen Gegnern der Rente ab 63 in der CDU/CSU und auch im Gegensatz zu vielen Grünen. Die Grünen lehnen nämlich das Rentenpaket ab, weil es ihnen viel zu weit geht. Wir Linken enthalten uns bei der Abstimmung über das Rentenpaket, weil es uns nicht weit genug geht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir Linken werden uns enthalten, weil das Rentenpaket viel zu gut ist, um es abzulehnen, und weil es viel zu schlecht ist, um zuzustimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, vor vier Tagen sind Sie bei Ihrem sogenannten Rentenkompromiss wieder einmal vor dem CDU-Wirtschaftsflügel des Herrn von Stetten eingeknickt. Okay, Sie wollen, dass Ältere auch nach Erreichen ihrer Regelaltersgrenze in ihrem Job weiterarbeiten können. Das ist gut und schön. Ich freue mich über jede 65-jährige Buchhalterin, die in einem guten Betrieb zu einem guten Gehalt arbeitet, sich fit fühlt und sich dann mit ihrem Chef darauf einigt, weiterzumachen. Aber auf dem Bau werden Sie da wohl niemanden finden. Gerade einmal 11,7 Prozent der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Männer dieser Branche sind 55 Jahre oder älter. Genau diese Menschen brauchen die Unterstützung der Politik:

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

ältere Beschäftigte, denen das Unternehmen über Jahre hinweg jede Weiterbildung verweigert hat oder die krank sind, sich aber trotzdem Tag für Tag zur Arbeit schleppen, oder die mit dem Tempo und den neuen Methoden des Juniorchefs nicht mehr mitkommen. Vor allem für diese Menschen muss etwas getan werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Dazu findet sich kein Wort in Ihrem Kompromiss. Oder habe ich da etwas überlesen? Gründen Sie etwa eine Kommission gegen die absolut unakzeptablen Arbeitsbedingungen von älteren Bauarbeitern und älteren Krankenschwestern? Nein, das tun Sie natürlich nicht. Diese Menschen bekommen keine Reha und nur eine mickrige Erhöhung der Erwerbsminderungsrente, weil wegen der Mütterrente, die Sie fälschlicherweise aus Beiträgen finanzieren, kein Geld mehr in der Rentenkasse ist. Das ist die soziale Schieflage Ihres Rentenpaketes, und das ist der eigentliche Skandal.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren von der Koalition, das Rentenpaket hat noch mehr Gerechtigkeitslücken. Sie rechnen Hartz-IV-Zeiten nicht auf die 45 Beitragsjahre für die Rente ab 63 an. Wer einmal vier Jahre arbeitslos war, hat genauso viel oder wenig in seinem Arbeitsleben geleistet wie jemand, der viermal ein Jahr arbeitslos war. Die eine bekommt die Rente ab 63 bzw. 65, der andere nicht. Das ist ungerecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber es kommt noch dicker. Am Montag haben Sie Ihren rollierenden Stichtag verabredet. Zwei Jahre vor der Rente ab 63 darf man in Ihrer Welt nicht mehr arbeitslos werden; denn diese werden dann nicht mehr auf die 45 Jahre Wartezeit angerechnet.

(Dr. Carola Reimann (SPD): Das stimmt ja auch nicht!)

Das ist nicht nur ungerecht, sondern einfach eine Sauerei!

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Ministerin, dazu ein Beispiel. Sie kommen ja aus dem schönen Rheinland-Pfalz. Sie wissen: Der Nähmaschinenhersteller Pfaff stand vergangenes Jahr vor der dritten Insolvenz. Die konnte zum Glück verhindert werden ‑ nicht von der Politik. Nein, die Firma konnte gerettet werden, weil 40 von 220 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern freiwillig und solidarisch in eine Beschäftigungsgesellschaft gewechselt sind. Ein Pfaff-Mitarbeiter ist an seinem 60. Geburtstag in diese Gesellschaft gewechselt, um damit die Kündigung eines Jüngeren zu verhindern. Das hat auch geklappt.

Dank der Zeit in der Beschäftigungsgesellschaft und anschließend zwei Jahren Arbeitslosigkeit konnte er sich auf die Rente ab 63 ohne Abschläge freuen - bis vergangenen Montag. Da kam Ihr rollierendes Monster aus Angst vor der Frühverrentung - für Ihren Koalitionsfrieden. Die zwei Jahre Arbeitslosigkeit vor dem 63. Geburtstag zählen plötzlich nicht mehr zu den 45 Versicherungsjahren. Das heißt, dieser Kollege wird von Ihnen allen dafür bestraft, dass er den Arbeitsplatz eines jüngeren Kollegen gerettet hat. So schafft der CDU-Wirtschaftsflügel Generationenkonflikte. Ist das, was ich geschildert habe, etwa die Form von Frühverrentung, die Sie unbedingt verhindern wollen? Nein, das ist solidarisch. Darum fordert die Linke: Stampfen Sie diesen rollierenden Stichtag ein!

(Beifall bei der LINKEN)

Und schließlich: Schließen Sie von den vielen Gerechtigkeitslücken Ihres Rentenpaketes wenigstens die folgenden drei:

Erstens. Finanzieren Sie die Mütterrente aus Steuergeldern. Das ist gerecht,

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und das schafft finanzielle Spielräume für höhere Renten für alle. Ich will es hier noch einmal deutlich sagen: Alle Gewerkschaften, alle Arbeitgeber, alle Sozialverbände, die Linke, die Grünen und vor allen Dingen alle sachverständigen Professoren in der Ausschussanhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales haben Ihnen gesagt, dass die Mütterrente aus Steuergeldern finanziert werden muss. Bei dieser Breite: Hören Sie doch einmal auf den Rat der Sachverständigen! Machen Sie es einfach! Kindererziehung geht alle an.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Hören Sie auf den Appell der Fraueninitiative der Volkssolidarität „Gleiche Mütterrente in Ost und West“,

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und sorgen Sie dafür, dass die vielen Mütter und die wenigen Väter für ihr Kind 86 Euro auf dem Rentenkonto gutgeschrieben bekommen ‑ egal, ob es 1970 in Dresden oder 1998 in Düsseldorf geboren wurde.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Schaffen Sie die willkürlichen Kürzungen von 10,8 Prozent bei den Erwerbsminderungsrenten endlich ab, und verlängern Sie die Zurechnungszeit um drei Jahre! Das brächte durchschnittlich 130 Euro mehr im Monat, und es hülfe vielen kranken Rentnerinnen und Rentnern aus der Sozialhilfe heraus.

Meine Damen und Herren, unsere Vorschläge zu all dem liegen auf dem Tisch. Stimmen Sie ihnen zu - im Interesse der Menschen!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

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Kurzintervention während der anschließenden Rede des Abgeordneten Schiewerling (CDU/CSU):

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Herr Kollege Schiewerling, Sie haben gerade behauptet, das Rentenniveau würde nicht absinken.

(Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Wahrheitswidrig!)

Diese Aussage ist wahrheitswidrig. Sie ist komplett falsch.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Rentenniveau betrug im vorigen Jahr 48,7 Prozent, beträgt in diesem Jahr 47,8 Prozent und wird ausweislich des Gesetzes, das wir hier heute in abschließender Lesung diskutieren, im Jahr 2030 auf 43,7 Prozent absinken. Durch dieses Gesetz wird es stärker sinken, als es ohne dieses Gesetz gesunken wäre; dann wäre es nämlich auf nur - in Anführungsstrichen - 44,4 Prozent gesunken. Was sagen Sie zu dem Widerspruch zwischen dem, was in dem Gesetz steht, das wir heute verabschieden, und dem, was Sie eben gesagt haben? - Das ist meine Frage.

Außerdem möchte ich die Gelegenheit nutzen, dem Hohen Hause und der Öffentlichkeit noch einmal deutlich zu machen, was das Rentenniveau ist; das ist vielen Menschen nämlich gar nicht bewusst. Der aktuelle Begriff des Rentenniveaus lautet korrekt „Sicherungsniveau vor Steuern“ und ist wie folgt definiert - jetzt bitte gut aufpassen -:

„Verfügbare Standardrente (nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag, aber vor etwaigen Steuern auf Rente) im Verhältnis zum durchschnittlichen Bruttolohn nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und der Beiträge zur geförderten freiwilligen Zusatzvorsorge, aber vor Abzug der Lohnsteuer.“

Das ist das Rentenniveau, und das, Herr Schiewerling, sinkt, egal, welche schönen Worte Sie hier machen.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)