Rentenunrecht an DDR-Aussiedler*innen und Geflüchteten beseitigen!

Menschen, die vor dem Mauerfall aus der DDR in den Westen geflohen oder ausgereist waren, wurden rückwirkend und gegen ihren Willen nach 1989 wieder zu DDR-Bürgerinnen und Bürgern gemacht. Matthias W. Birkwalds Rede vom 18.11.2020

19.11.2020
Redebeitrag von Matthias W. Birkwald (Die Linke) am 18.11.2020 um 17:09 Uhr (191. Sitzung, TOP 5)

Die gesamte Debatte können Sie sich hier in der Mediathek des Bundestages[1] ansehen. Dort finden Sie auch die Antwort auf die Große Anfrage, um die es ging. 

Rede:

 

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dem Mauerfall hat die Bundesrepublik Deutschland die Ostdeutschen in die gesetzliche Rentenversicherung integriert. Die Rentenüberleitung war eine große Aufgabe; es gab Licht und Schatten.

Um ein Problem geht es dabei in unserer Großen Anfrage. Menschen, die schon Jahre oder Jahrzehnte vor dem Mauerfall unter großen Entbehrungen und nach vielen Demütigungen und oft auch unter Einsatz ihres Lebens aus der DDR in den Westen geflohen oder ausgereist waren, wurden rückwirkend und heimlich in die Rentenüberleitung einbezogen. Diesen DDR-Flüchtlingen hatten alle westdeutschen Regierungen vor 1989 versprochen, dass sie rentenrechtlich so behandelt werden würden, als hätten sie ihr komplettes Arbeitsleben im Westen verbracht.

Dieses Versprechen stand so im „Wegweiser für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR“, herausgegeben vom Bundesminister des Innern im Jahre 1980 und danach. Gut und richtig; denn ihre Ansprüche gegenüber der DDR-Sozialversicherung waren ihnen ja auch storniert, aberkannt und gestrichen worden. Das wurde ihnen nicht nur versprochen, sondern es wurde auch im Fremdrentengesetz juristisch eindeutig so verankert. Sie erhielten ein FRG-Rentenkonto; ihre DDR-Vergangenheit spielte sozialrechtlich keine Rolle mehr. Alles gut.

Aber ab den 90er-Jahren erhielten die DDR-Altübersiedlerinnen und ‑Altübersiedler dann plötzlich ohne jede diesbezügliche Information Rentenbescheide mit einem anderen Kürzel zugeschickt. Wo früher im Versicherungsverlauf „FRG“ für „Fremdrentengesetz“ stand, war plötzlich „SVA“ für „beitragspflichtiger Verdienst zur Sozialpflichtversicherung im Beitrittsgebiet“ eingetragen worden. Damit waren die Entgeltpunkte zusammengeschmolzen. Ihre bisherigen Rentenansprüche wurden gelöscht, und diese wurden plötzlich von der Rentenversicherung als DDR-Zeiten bewertet - das alles ohne vorherige nachvollziehbare Debatte im Bundestag, ohne eine vernünftige Begründung in irgendeinem der vielen Nachwendegesetze und ohne eine direkte Information der Betroffenen. So wurden Flüchtlinge über Nacht wieder zu DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürgern gemacht, und das ist völlig inakzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung behauptet, das alles stünde im Renten-Überleitungsgesetz. Das stimmt nicht; denn das war eindeutig an die damaligen Versicherten im Beitrittsgebiet adressiert. Liebe Bundesregierung, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, bitte zeigen Sie mir die Stelle im Gesetz, wo das stehen soll.

(Daniela Kolbe (SPD): Antworten des Bundesministeriums!)

Die Betroffenen empfinden das bis heute als Diskriminierung und als Rechtsbruch. Ich kann das verstehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen allen einen Blick auf die Webseite der Interessengemeinschaft ehemaliger DDR-Flüchtlinge e. V.; die Adresse lautet www.flucht-und-ausreise.info. Der Vereinsvorsitzende, Herr Dr. Jürgen Holdefleiß, hat Sie in den vergangenen Tagen angeschrieben und Antworten der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Linken kritisch kommentiert. Bitte antworten Sie in Ihren Erwiderungen nicht mir, sondern antworten Sie bitte den Betroffenen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Altübersiedlerinnen und Altübersiedler haben jahrzehntelang auf das Rentenrecht vertraut, und sie haben fleißig gearbeitet. Sie haben sich im Westen ein neues Leben aufgebaut, und dann wurden sie durch die Wiedervereinigung, die sie mehr als viele andere Menschen in diesem Land herbeigesehnt hatten, schwer benachteiligt. Das ist doch absurd!

(Beifall bei der LINKEN)

Verehrte Bundesregierung - ich sehe jetzt weder die Staatssekretärin noch den Minister -,

(Zurufe von der CDU/CSU: Doch!)

Herr Weiß, die Geflüchteten wollen im Jahr 31 nach dem Mauerfall kein Bedauern. Sie wollen auch keine Entschuldigung. Nein, sie fordern den echten Willen, dieses Unrecht endlich aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen. Wir Linken unterstützen das.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, zum Schluss. Wir waren schon mal weiter. Wir hatten im Petitionsausschuss bereits 2013 einen vollständigen überparteilichen Konsens. Es gab das Gutachten von Professor Steinmeyer. Er sagte: Es ist gezeigt worden, dass eine Lösung möglich ist, wenn bestimmte Rahmenbedingungen beachtet werden. - Und genau das erwarten wir Linken vom Ministerium für Arbeit und Soziales und von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Ich habe auch eine Erwartung an Sie.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Ich bin auch sofort bereit, Ihrer Erwartung nachzugeben, und sage: Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Kurzintervention 

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie die Kurzintervention zulassen. - Ja, ich hatte das Wort. Aber ich habe den Kolleginnen ordentlich zugehört, und deswegen wollte ich beide, Frau Kolbe und Frau Schimke, etwas fragen, nämlich ob sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass beispielsweise ein Diplomingenieur für Informationstechnik und Elektrotechnik, der im Jahr 1942 geboren wurde, nach geltendem, aber nicht angewandtem Fremdrentengesetz 29,8 Entgeltpunkte hätte, jedoch nach dem Renten-Überleitungsgesetz, das aktuell auf die DDR-Altübersiedler angewandt wird, nur 13,98 Entgeltpunkte kriegt. Wenn er nicht aus der DDR geflohen wäre, sondern in der DDR geblieben wäre, dann hätte er 28,6 Entgeltpunkte. Anders ausgedrückt: Diesem Mann werden gut 15,8 Entgeltpunkte genommen, und das sind 525 Euro Rente. „Finden Sie das vertretbar und gerecht?“ ist meine Frage an Sie.

Hier wurde mehrfach gesagt: Wir sind bereit, Gespräche zu führen. - Dann fordere ich Sie höflich, aber nachdrücklich auf - die Bundesregierung, die Union, die SPD und alle, die Gutes mittun wollen -: Setzen Sie sich mit den Betroffenen an einen Tisch,

(Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Ja, haben wir gemacht!)

finden Sie eine gemeinsame Lösung, und kommen Sie den Betroffenen bitte nicht mit Härtefallregelungen oder Ähnlichem! Denn viele von denen hatten sich schnell und gut integriert, eine neue Existenz aufgebaut und eine ordentliche Rente erarbeitet.

(Zuruf des Abg. Dr. Martin Rosemann (SPD))

Aber die Entwertung ihrer ostdeutschen Erwerbsbiografie, die demütigt sie bis heute.

Deswegen: Reden Sie miteinander, und lassen Sie uns alle gemeinsam nach einer Lösung suchen! Wenn Sie das machen, sage ich: Herzlichen Dank!

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

 

 

 

 

 

Links:

  1. https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7484286#url=bWVkaWF0aGVrb3ZlcmxheT92aWRlb2lkPTc0ODQyODY=&mod=mediathek