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Matthias W. Birkwald

Doppelsteuer: Wie der Staat bei Rentnern zweimal kassiert

Plusminus-Beitrag vom 19.10.2017 u.a. mit Matthias W. Birkwald MdB

19.10.2017
Plusminus, Autorin: Christiane Cichy

Video: Skandal um Doppelsteuer...

– Rente wird zunehmend versteuert, dafür soll die Besteuerung von Renten sinken.
– Dadurch kommt es teilweise zu einer doppelten Besteuerung, weil Anhebung bzw. Senkung ungleichmäßig verlaufen.
– Experten halten das für verfassungswidrig.
– Die Regierungsparteien wollen Gerichtsentscheidungen abwarten, statt die Gesetze anzupassen.
– Klagen ist allerdings schwierig und langwierig.

Rita Wally ist seit diesem Jahr Rentnerin. Wie andere auch, muss sie auf einen Teil ihrer Rente Steuern zahlen. Das ist an sich richtig, doch Rita Wally bezahlt zu viel: 350 Euro jedes Jahr. Würde sie die statistische Lebenserwartung erreichen und 17 Jahre Rente bekommen, wären das knapp 6.000 Euro, die der Fiskus zu viel bei ihr abkassiert. Sie versteht nicht, warum das überhaupt möglich ist:


"Dass die Rente noch einmal besteuert wird, ist ein Unding, das geht einfach nicht. Das darf der Staat nicht zulassen, auch in Zukunft nicht. Das kann man auch den Rentnern nicht zumuten."

Ungleiche Umstellung

Aber warum ist das so? 2005 gab es bei der Besteuerung der Renten eine Systemumstellung. Bis dahin waren sie nahezu steuerfrei, doch seitdem steigt der Anteil der Rente, der besteuert wird, kontinuierlich. 2040 soll er bei 100 Prozent liegen. Die Rente wird dann also komplett besteuert. Gleichzeitig müssen die Rentenbeiträge während des Arbeitslebens schrittweise steuerfrei gestellt werden. Doch das passiert nicht in gleichem Maße – zum Nachteil der Rentner wie Rita Wally. Ihre Rente wird bereits mit 74 Prozent besteuert. Dabei waren die Rentenbeiträge während ihres Arbeitslebens nur zu 56 Prozent steuerfrei. Ein Teil ihrer Rente wird also doppelt und somit zu viel besteuert.

Kein neues Problem

Ist die Besteuerung der Renten verfassungskonform?

Bereits 2016 hat "Plusminus" über die drohende Gefahr einer Doppelbesteuerung berichtet. Franz Ruland, der 2002 Chef der deutschen Rentenversicherung war, hatte deutlich gemacht:

"Der Zustand ist meines Erachtens verfassungswidrig, denn das Bundesverfassungsgericht hat klar gesagt, dass es in keinem Fall, ich betone in keinem Fall, zu einer Doppelbesteuerung kommen darf."

Das Problem ist auch der Regierung bekannt. Im zuständigen Bundesfinanzministerium schlummert seit neun Jahren ein Papier, das dringend Handlungsbedarf anmahnt. Die Autoren waren die damals höchsten Rentensachverständigen im Land: Bernd Rürup und Herbert Rische. In dem Papier von 2007 raten sie zur Änderung des Alterseinkünftegesetzes, "da die Übergangsregelung … gegen das Verbot der Zweifachbesteuerung verstößt."

Finanzmathematiker der eine, Steuerberater der andere: Der Studie der Brüder Werner und Günter Siepe zufolge nimmt das Problem der Dopppelbesteuerung zu.

Der Finanzmathematiker Werner Siepe hat zusammen mit seinem Bruder Günter Siepe, der Steuerberater ist, in einer aktuellen Studie berechnet, wen die Doppelbesteuerung betrifft und in welchem Maße. Nach seiner Prognose nimmt das Problem zu:

"Unsere Studie hat gezeigt, dass das Ausmaß der Doppelbesteuerung von Jahr zu Jahr wächst. Das heißt, die Schere geht auseinander. Während es jetzt ganz wenige sind, werden es immer mehr."

Tendenz: steigend

Die Berechnungen der Brüder für einen Durchschnittsrentner sehen konkret so aus: Für die, die 2017 in Rente gegangen sind, liegt der Anteil, der zu viel besteuert wird, noch unter 10.000 Euro.

Für die, die 2020 in Rente gehen, sind es dann schon mehr als 22.000 Euro. 2040 wären es bereits über 53.000 Euro, die zu viel besteuert werden.

Handeln – oder abwarten?

Trotz dieses Ausmaßes sieht das zuständige Bundesfinanzministerium nach wie vor keinen Bedarf, das Gesetz zu ändern. Für den Rentenexperten Matthias Birkwald von den Linken ist das nicht nachvollziehbar:

"Bei diesem Thema darf es kein Aussitzen geben, das Problem ist seit Jahren bekannt. Deswegen fordere ich den künftigen Bundesfinanzminister, egal wer es sein wird, auf, hier dringend, sofort, im Interesse der Rentner zu handeln."

Die AfD will sich dafür einsetzen, dass es nicht zu einer Doppelbesteuerung kommt. Die Grünen wollen sich noch sachkundig machen, die FDP hat die Anfrage von "Plusminus" nicht geantwortet.

Lothar Binding, der finanzpolitische Sprecher der SPD, will noch die Rechtsprechung abwarten:

"Es ist wirklich klug auf das Gericht zu warten, bevor wir jetzt politisch da eilfertig etwas machen, das dann keinen Bestand hat."

Die gleiche Haltung nimmt Antje Tillmann, die finanzpolitische Sprecherin der CDU ein:

"Sonst müssen wir es zweimal machen: Wir ändern das Gesetz, die Steuerpflichtigen müssen vor Gericht gehen und müssen es dann im Zweifel nochmal ändern."

Was SPD und CDU nicht sagen: Damit die Gerichte entscheiden können, müssen Betroffene erst einmal klagen. Zudem können von der Klage bis zum Urteil viele Jahre ins Land gehen. Abzuwarten, dass sich Betroffene durch die Instanzen klagen, anstatt per Gesetz die Doppelbesteuerung zu verhindern, ist also auch ein Spiel auf Zeit.

Langwierige Verfahren mit einigen Hürden

Einer der ersten, der klagt, ist wie Gert Zimmermann, der 2009 in Rente gegangen ist. Für sich selbst hat er ausgerechnet, dass er im Jahr knapp 470 Euro zu viel an Steuern zahlt. Legt er die statistische Lebenserwartung zugrunde, wären es während dieser Zeit etwa 8000 Euro, die der Fiskus bei ihm zu viel kassiert. Das macht ihn fassungslos:

"Ich war maßlos enttäuscht, ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass man doppelt besteuert wird, sprich dass man Kapitalverlust erleidet."

Gert Zimmemann hat den Klageweg beschritten. Dafür braucht er einen langen Atem.

Nachdem er sieben Steuerberater angefragt hatte und keiner bereit war, seinen Fall zu übernehmen, arbeitete sich der ehemalige Physiker schließlich selbst in die komplizierte Materie ein. Seit 2014 liegt nun seine Klage beim Finanzgericht. Warum außer einem Erörterungstermin bislang aber nichts passiert ist, kann er nicht nachvollziehen:

"Ich verstehe das nicht, dass das so lange dauert. Ich ärgere mich darüber. Ich habe aber keine Möglichkeiten, das zu beschleunigen."

Das ist nicht die einzige Hürde. Um die Doppelbesteuerung in seinem Fall zu beweisen, muss er alle Steuerbescheide seit 1977 vorweisen können. Er hat sie zwar tatsächlich alle aufgehoben, aber nur die wenigsten Steuerzahler machen das.

Staat in der Pflicht

Wer gegen die Doppelbesteuerung klagen will, muss alle Steuerbescheide vorweisen können. Doch viele haben die alten Bescheide gar nicht mehr.

Die Steuerexpertin Prof. Johanna Hey vom Institut für Steuerrecht an der Uni Köln sieht deshalb eindeutig den Staat in der Verantwortung:

"Im Augenblick spielt er insofern auf das Konto der Steuerpflichtigen , als wer es nicht mehr nachweisen kann, weil er seine Steuerbescheide nicht aufgehoben hat, der guckt salopp gesagt in die Röhre. Und das ist natürlich für den Gesetzgeber auch wieder eine Möglichkeit, die Zahl der Fälle, bei denen etwas gemacht werden muss, zu reduzieren."

So kassiert Vater Staat also vorerst fleißig weiter – auch bei Gert Zimmermann und Rita Wally. Letztere will übrigens ebenfalls gegen die Doppelbesteuerung ihrer Rente klagen.

Autorin: Christiane Cichy

Stand: 18.10.2017 23:00 Uhr